Grenzüberschreitender Schienenverkehr aus Sicht der Verkehrssicherheit
Erstellt am: 28.11.2003 | Stand des Wissens: 23.02.2017
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Ansprechpartner
IKEM - Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V.
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Das europäische Eisenbahnsystem stellt zurzeit ein aus nationalen Schienennetzen zusammengesetztes Konstrukt dar, dessen Schnittstellen geprägt sind von technischen, betrieblichen und organisatorischen Inkompatibilitäten. Die historisch gewachsene, isolierte nationale Ausrichtung der einzelnen Bahnsysteme ist zurückzuführen auf die lange andauernde Dominanz von Staatsbahnen in Europa, die sich noch vor etwa zwei Jahrzehnten fast ausschließlich auf den eigenen nationalen Markt konzentrierten und dabei für sämtliche Prozesse und Ressourcen im Zusammenhang mit der Güter- und Personenbeförderung zuständig waren. [Pach00, S. 725; ScMi04, S. 832] Auch im Bereich der Sicherheit zeigt sich die historisch weitgehend unabhängig voneinander verlaufende Entwicklung der nationalen Bahnsysteme. So entstanden die jeweiligen Sicherheitsphilosophien auf Basis regionaler Erfahrungen, weshalb sich die daraus resultierenden Sicherheitskonzepte sowohl in ihrem Ansatz als auch in ihren Zielen und der Methodik unterscheiden. [Hods02, S. 686; EUKOM03ae, S. 8 ff.; ScMi04, S. 832]
Zijdemans und Frunt demonstrieren dies am Beispiel der unterschiedlichen Gestaltung von Notbremssystemen. In einigen Ländern erfolgt nach dem Betätigen der Notbremse durch einen Reisenden das sofortige Bremsen des Zuges bis zu dessen Stillstand. Hintergrund dieser Verfahrensweise ist das Vorbeugen von Personenschäden bei der Abfahrt eines Zuges, wenn Reisende eingeklemmt werden. Andere Staaten sehen eine andere Reaktion auf das Notsignal als sicherer an. Hier wird keine sofortige Bremsung eingeleitet, sondern zunächst eine Sprechverbindung zwischen dem Triebfahrzeugführer und dem Signalgeber aufgebaut. Grundlage dieser Sicherheitsphilosophie ist das Szenario eines brennenden Zuges, der durch das Notsignal nicht in einem Tunnel zum Stehen gebracht werden soll [ZiFr00, S. 466 f.]. Für einen solchen Fall fordern die nationalen Vorschriften einiger Staaten die Möglichkeit einer Notbremsüberbrückung. Ein ausführlicher Vergleich der historischen nationalen Sicherheitsvorschriften und -normen der europäischen Bahnen ist in der Studie "Safety Regulations and Standards for European Railways" der Europäischen Kommission nachzulesen [EUKOM00m].
Risikofaktoren
Wie in verschiedenen Studien nachgewiesen, bergen sowohl die uneinheitliche Ausgestaltung von Sicherheitsstandards und -systemen als auch der länderübergreifende Personal- sowie Materialeinsatz ein erhöhtes eisenbahnbetriebliches Gefahrenpotenzial. So gehört menschliches Versagen bereits im nationalen Verkehr zu den Hauptursachen von Eisenbahnunfällen [HaTa10, S. 762]. Durch den grenzüberschreitenden Betrieb mit demselben Personal entstehen durch Unkenntnis und Verwechslungen neue, durch den Faktor Mensch ausgelöste Probleme, die zu Sicherheitsrisiken für den Bahnbetrieb führen können. Daher wurde im Rahmen des EU-Projekts "Human Safe Rail in Europe (HUSARE)" ein Analyseinstrument entwickelt, welches den Verkehrsunternehmen die Identifizierung von Differenzen, der damit zusammenhängenden Fehlerquellen im menschlichen Handeln sowie der verfügbaren Gegenmaßnahmen ermöglicht [EuKom00e, S. 15 ff.].
Ferner konnten im Zuge einer von der Union Internationale des Chemins de fer (UIC, dt. Internationaler Eisenbahnverband) im Jahr 2002 vergebenen und den grenzüberschreitenden Güterverkehr zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland betrachtenden Studie weitere Gefahrenquellen ermittelt werden [ScMi04, S. 834]. Neben den als entscheidende Sicherheitsrisiken einzustufenden Bereichen Kommunikation und Sprache wurde in diesem Zusammenhang bspw. auf optisch ähnliche Signalbegriffe mit national jeweils vollkommen unterschiedlicher Bedeutung verwiesen sowie auf eine nicht identische Bemessung von Bremswegen. Darüber hinaus ergibt sich bei einem Wechsel des Triebfahrzeugs aufgrund länderspezifisch uneinheitlich ausgestalteter Führerstände ein erhöhtes Gefahrenpotenzial durch etwaige Fehlbedienungen [EuKom02d].
Harmonisierung als Maßnahme zur Gefahrenreduktion
Um die aus den beschriebenen nationalen Differenzen resultierenden Betriebssicherheitsrisiken für den grenzüberschreitenden Schienenverkehr mindern zu können, wurden von der Europäischen Kommission Maßnahmen zu einer weitreichenden technischen und rechtlichen Angleichung eingeleitet. Im Rahmen des zweiten Eisenbahnpakets "Auf dem Weg zu einem integrierten europäischen Eisenbahnraum" wurde vor diesem Hintergrund die "Richtlinie über die Eisenbahnsicherheit" (2004/49/EG) beschlossen [EuKom02b, S. 4 ff.; Habe13, S. 9, 12]. Sie verfolgt in erster Linie das Ziel, die Hindernisse auf dem Weg zu einem integrierten europäischen Eisenbahnraum in einem Stufenkonzept zu beseitigen. Hierfür sind Änderungen in vier [wesentlichen] Problemkreisen notwendig:
- Harmonisierung der Sicherheitsmethoden: Die Richtlinie vereinheitlicht die Struktur zu einer Zuständigkeitstrennung in den EU-Ländern. Sie sieht die Schaffung nationaler Behörden vor, deren Aufgaben in einem gemeinsamen Mindestpaket definiert werden.
- Beseitigung von Hindernissen auf dem Weg zu einer fortschreitenden Marktöffnung: Es soll ein Verfahren zur Verabschiedung gemeinsamer Sicherheitsziele geschaffen werden, das ein transparentes Verfahren zur Ausstellung der Sicherheitsbescheinigungen unterstützen soll, die den Zugang zur Infrastruktur erlauben.
- Einführung der Grundsätze der Transparenz und des Informationszugangs: Die Richtlinie führt gemeinsame Sicherheitsindikatoren ein; anhand dieser Indikatoren soll die Entwicklung der Eisenbahnsicherheit nachvollziehbar gestaltet werden. Die Richtlinie fordert außerdem, dass die Sicherheitsregeln veröffentlicht werden und für alle verständlich sein müssen.
- Schaffung unabhängiger Gremien, die Unfälle und andere Vorfälle im Netz untersuchen.
[Schw10b, S. 5]
Die Bearbeitung dieser ursprünglichen Problemkreise ist in den letzten Jahren in einigen Bereichen gut vorangeschritten, sodass ein Teil der Maßnahmen bereits umgesetzt werden konnte. Somit wurden etwa in Deutschland:
- das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) als nationale Sicherheitsbehörde bestimmt, die u. a. für die Erteilung von Sicherheitsbescheinigungen zuständig ist; das Verfahren wurde, basierend auf einem einheitlichen Verfahren, möglichst transparent gehalten und beinhaltet als Voraussetzung die Einrichtung eines Sicherheitsmanagementsystems, das gewisse Anforderungen der Sicherheitsrichtlinie erfüllen muss. Jedoch bestehen immer noch nicht harmonisierte, nationale Sicherheitsvorschriften, zum Beispiel im Bereich der Fahrzeugzulassung und des Baus sowie der Instandhaltung von Eisenbahninfrastrukturanlagen, weshalb Sicherheitsbescheinigungen für jedes befahrene unterschiedliche Streckennetz bzw. jeden Mitgliedsstaat separat zu beantragen sind;
- die Unfalluntersuchungsstelle des Bundes (EUB) als eine vom EBA unabhängige Institution zur Untersuchung gefährlicher Ereignisse im Schienenverkehr gegründet, um den aus der neuen Gesetzgebung resultierenden Vorgaben zu entsprechen.
Eine weitere Richtlinie des zweiten Eisenbahnpakets sah die Schaffung einer European Railway Agency (ERA, dt. Europäische Eisenbahnagentur) vor, welche zentrale Vermittlerfunktionen zwischen den verschiedenen, national zuständigen Sicherheitsbehörden übernehmen soll [(EG) Nr.881/2004]. Die ERA nimmt die ihr zugeteilten Aufgaben seit 2006 vollumfänglich wahr [Fisc07, S. 59]. Derzeit befindet sich das im Januar 2013 vorgelegte vierte Eisenbahnpaket im Ratifikationsprozess. Darin sieht die Europäische Kommission vor, die Rolle der ERA so weit auszubauen, dass sie zu einem "One-Stop-Shop" für Fahrzeugzulassungen und die Ausstellung von Sicherheitsbescheinigungen wird, wodurch sie den nationalen Sicherheitsbehörden diese Aufgabe abnehmen würde. [EUKOM13j]
Technische Harmonisierungsbemühungen wiederum finden beispielsweise durch das im 6. EU-Forschungsrahmenprogramm geförderte Projekt "European Driver's Desk plus" (EUDDplus) ihren Ausdruck. Das Projekt fokussierte die Mensch-Maschine-Schnittstelle am Arbeitsplatz des Triebfahrzeugführers mit dem Ziel, eine Standardisierung und ergonomische funktionale Gestaltung des zukünftigen europäischen Führerstands für Lokomotiven und Triebzüge zu erreichen, um sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Arbeitssicherheit zu verbessern [HuMi10, S. 532; EuKom02d]. Ein wesentlicher Akteur im Bereich der technischen Harmonisierung sicherheitsrelevanter Komponenten des Bahnsystems ist die Union of European Railway Industries (unife, dt. Organisation der Europäischen Bahnindustrie) mit ihren spezifischen Arbeitsgruppen, in denen bedeutende europäische Bahntechnikhersteller agieren [unife13a, S. 54].