Infrastruktur und Verlagerungspotenziale des Nichtmotorisierten Verkehrs
Erstellt am: 19.09.2003 | Stand des Wissens: 24.11.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Die Verfügbarkeit einer bedarfsgerechten, attraktiven Verkehrsinfrastruktur kann potenzielle Verkehrsteilnehmer des Nichtmotorisierten Individualverkehrs (NMIV) maßgeblich motivieren, oft und gern zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs zu sein.
Großes Potenzial für eine entsprechende Verlagerung von Verkehrsanteilen des MIV hin zum NMIV liegt in den Kurzstrecken bis fünf Kilometer. Wie Abbildung 1 beispielhaft zeigt, sind die Entfernungsklassen von über einem bis fünf Kilometern deutlich vom MIV dominiert. In den großen SrV-Vergleichsstädten liegt die Hälfte aller mit dem MIV absolvierten Wege im Entfernungsbereich von bis zu fünf Kilometern.
Abbildung 1: Entfernungsklassen und Verkehrsmittelnutzung in Städten [SrV18]
Die jüngste bundesweite Erhebung zur "Mobilität in Deutschland (MiD)" hat für das Jahr 2017 einen Radverkehrsanteil in Höhe von etwa elf Prozent aller Wege ermittelt [Foll19]. Der Blick auf die europäischen Nachbarn Deutschlands zeigt, dass ein landesweiter Radverkehrsanteil von bis zu 27 Prozent (Niederlande, Skandinavien) zu erreichen ist, wobei auch hier eine Erhöhung auf bis zu 47 Prozent in den Städten und 41 Prozent auf dem Land erzielt werden kann [BMVBW02c, BMVBW98h]. Auf Distanzen bis fünf Kilometer können in diesen Ländern Radverkehrsanteile von 40 Prozent bis 50 Prozent registriert werden [BMVBW98h].
Der Städtevergleich der Studie "Mobilität in Städten - SrV" weist in den 118 Untersuchungsräumen einen aufkommensbezogenen Radverkehrsanteil zwischen 4,9 und 30,7 Prozent aus [SrV18h, siehe Tabelle 13]. Die große Spannweite dieser Kennwerte zeigt den Spielraum an, der für die weitere Stärkung des Nichtmotorisierten Individualverkehrs zur Verfügung steht.
Gleichwohl ist auch zu bedenken, dass gerade die Nutzung des Fahrrades in topographisch bewegten Gegenden an ihre Grenzen stößt. Im SrV 2018 wurden in flachen Unterzentren Radverkehrsanteile von 11,7 Prozent gegenüber 7,8 Prozent in hügeligen Unterzentren gemessen. In Mittelzentren lagen diese Werte bei 15,6 Prozent (flache Topografie) und 9,8 Prozent (hügelige Topografie). In Oberzentren mit weniger als 500.000 Einwohnern lagen diese Werte bei 19,9 Prozent (flache Topografie) und 12,3 Prozent (hügelige Topografie). In flachen Oberzentren mit 500.000 Einwohnern oder mehr (ohne Berlin) wurde ein Radverkehrsanteil von 19,6 Prozent gemessen [SrV18b, SrV18c, SrV18d, SrV18ba, SrV18e, SrV18f, SrV18g, siehe Tabelle 5.3].
Insbesondere in ländlichen oder eher hügeligen Regionen ist die Beliebtheit von Pedelecs hoch, denn die erleichtern die Überwindung von größeren Distanzen und Höhenunterschieden. Sie sind auf bis zu 10 Kilometer langen Wegen mit dem Pkw konkurrenzfähig. Insbesondere bei Berufspendelnden, die Pkw-Strecken zwischen 5 und 20 Kilometern zurücklegen, besteht hohes Potenzial, dass diese Fahrten künftig auf das Pedelec verlagert werden [Wacho14].
Besonders großes Potenzial für den NMIV liegt nach wie vor in den Städten: Dabei sind möglichst kompakte Siedlungsstrukturen und eine gute Durchmischung der Standorte für Wohnen, Bildung, Arbeiten und Versorgung besonders wichtig. Die Förderung der Stadt der kurzen Wege vergrößert das Potenzial für Wege in den unteren Entfernungsklassen, in welchen Rad- und Fußverkehr bevorzugt werden [UBA11b].
Eine integrative Betrachtung der Stadt- und Verkehrsentwicklung im Sinne einer fußgänger- und fahrradfreundlichen Verkehrspolitik hilft, die Vision der "Stadt der kurzen Wege" mit hoher innerstädtischer Wohnqualität und guter Erreichbarkeit der wesentlichen Ziele auf kurzen Wegen zu verwirklichen. Mobilitätskosten wie auch Mobilitätsteilhabe sind in der Innenstadt wesentlich positiver zu bewerten als im Umland [BMVBW02c].
Eine integrative Betrachtung der Stadt- und Verkehrsentwicklung im Sinne einer fußgänger- und fahrradfreundlichen Verkehrspolitik hilft, die Vision der "Stadt der kurzen Wege" mit hoher innerstädtischer Wohnqualität und guter Erreichbarkeit der wesentlichen Ziele auf kurzen Wegen zu verwirklichen. Mobilitätskosten wie auch Mobilitätsteilhabe sind in der Innenstadt wesentlich positiver zu bewerten als im Umland [BMVBW02c].
Im Gegensatz zu den Verkehrswegen für den Motorisierten Verkehr lassen sich Geh- und Radwege optimal in das Landschaftsprofil einer Stadt integrieren [Knof95]. Zudem ist der Flächenverbrauch des NMV deutlich geringer, sodass freiwerdende Flächen anderen Nutzungen zur Verfügung stehen.
Ein großes Potenzial zur Stärkung des Radverkehrs insbesondere auch für den Berufsverkehr in Ballungsräumen wird in der Einrichtung von Radschnellwegen gesehen. Sie haben das Potential, Kfz-Hauptrouten zu entlasten, große Radverkehrsmengen zu bewältigen und große Geschwindigkeiten zu ermöglichen. Um dieses Potenzial nutzbar zu machen, sind einige Qualitätsanforderungen zu erfüllen, die bereits von der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen formuliert wurden [FGSV14a]. Als prominentes Beispiel für einen attraktiven Radschnellweg gilt der RS1, der in Nordrhein-Westfalen die Städte Duisburg und Hamm verbinden soll. Im Jahr 2015 wurde das erste Teilstück zwischen Mülheim und Essen bereits eröffnet. In Dortmund und Bochum wurden 2021 und 2022 weitere Teilabschnitte eröffnet.
Um die Durchgängigkeit des Radwegenetzes zu gewährleisten, ist es sinnvoll, auch Kreisverkehre radverkehrsfreundlich zu gestalten. Dies kann insbesondere durch eine fahrbahnnahe Führung des Radverkehrs sowohl an den Zu- und Ausfahrten sowie innerhalb des Kreises erreicht werden. Immer geht es hierbei auch darum, gute Sichtbeziehungen zwischen dem Motorisierten Individualverkehr und dem Radverkehr zu gewährleisten [UDV17c].
Fußgänger- und fahrradfreundliche Innenstädte tragen durch die reduzierte Schadstoff- und Lärmbelastung zu einer Erhöhung der Lebensqualität bei. Die damit wiederum steigende Attraktivität der Städte kann die Zuwanderung fördern und Wohnungsleerstand und verfall abmindern. Im gleichen Zug kann sie die Abwanderung reduzieren und somit der weiteren Zersiedlung der Landschaft entgegenwirken.
Auch der Tourismus kann von der Attraktivitätssteigerung der Städte für den NMIV profitieren.