Zielkonflikte durch eine Sicherheitserhöhung im Schienenverkehr
Erstellt am: 01.12.2003 | Stand des Wissens: 01.03.2024
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
IKEM - Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V.
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Das Sicherheitsniveau im Schienenverkehr kann heutzutage als hoch bewertet werden. Und doch ist - aufgrund der speziellen Charakteristika des spurgeführten Verkehrs - durch zusätzliche Technik und Modifikationen noch immer ein Zugewinn an Sicherheit möglich. Dies setzt jedoch zum Teil erhebliche Investitionen voraus. Da allerdings eine Gefährdung nicht zu hundert Prozent ausgeschlossen werden kann, stellt die Frage nach einem finanzierbaren Sicherheitsniveau mit einem von der Gesellschaft akzeptierten Restrisiko. Im Spannungsfeld von Sicherheitszuwachs und Wirtschaftlichkeit muss daher immer wieder der Konsens über das akzeptable Restrisiko gesucht werden. Durch die Herstellung von Interoperabilität und eines einheitlichen Standards bei Sicherheitssystemen im europäischen Raum können die entsprechenden Investitionskosten niedriger gehalten und das Sicherheitsniveau stetig verbessert werden. [Hemz13, S. 22 ff.]
Das Problem der Restrisikobewertung
Seit vielen Jahren mehren sich Stimmen, die sich angesichts des Restrisikos für die Notwendigkeit geeigneter Grenzwerte aussprechen, die staatlich festzulegen seien [Witt02a, S. 40]. Im Rahmen ihrer Harmonisierungsbemühungen hat die Europäische Kommission die European Railway Agency (ERA) mit der Erarbeitung entsprechender quantitativer und qualitativer Akzeptanzkriterien beauftragt. Mit Hilfe sogenannter Common Safety Targets (CST) sollte ein einheitliches, für sämtliche Mitgliedsstaaten tolerierbares, Risikoakzeptanzniveau definiert werden [Sala08, S. 7].
Ein anschauliches Beispiel für die Restrisiko-Problematik ist die Beurteilung der Dimensionierung von Sicherheitsmaßnahmen an Bahnübergängen. So wird nach Eintreten eines Unfalls an einem Bahnübergang ohne technische Sicherung schnell behauptet, dass die Kosten für zusätzliche Sicherungsmaßnahmen an dieser Stelle dem Eisenbahninfrastrukturunternehmen zumutbar gewesen wären. Allerdings waren rund 43 Prozent (in Zahlen: 8.024 Bahnübergänge (BÜ)) der 2012 im Netz des Deutsche Bahn AG Konzerns (DB AG) befindlichen 18.699 BÜ technisch ungesichert. Die Sicherung dieser ungesicherter BÜ erfordert jedoch erhebliche finanzielle Mittel [DBAG09c; DBML14a, S. 3]. Aus diesem Grund gab die DB AG bereits 1986 eine Studie in Auftrag, die die Unfallrisiken an Bahnübergängen, mögliche Sicherheitsmaßnahmen, deren Kosten und die zu erwartende Risikominderung aufzeigt. Daraus wurde ein Maßnahmenpaket abgeleitet, das eine Halbierung des Unfallrisikos innerhalb von 15 Jahren zum Ziel hatte. Es wurde davon ausgegangen, dass Eisenbahnunternehmen Sicherheitsmaßnahmen im Umfang von 0,5 bis 1,5 Millionen Euro zuzumuten sind, wenn dadurch Menschenleben gerettet werden können [Witt02a, S. 40 f.]. Die DB AG und der Bund investieren bundesweit jährlich rund 170 Millionen Euro in die Sicherung von Bahnübergängen, wobei der Bund bzw. das jeweilige Bundesland jeweils ein Drittel der Kosten übernimmt [Meng08, S. 42; IRP12].
Kostenfaktor Sicherheit
Hohe Sicherheitsanforderungen können auch dazu führen, dass ein wettbewerbsfähiger Eisenbahnbetrieb nicht mehr möglich ist. Die intramodale Konkurrenzsituation kann bspw. aufgrund steigender Sicherheitsstandards eine unerwünschte Marktverzerrung erfahren. So werden Neuerungen im Sicherheitsbereich, die mit einem verpflichtenden Austausch technischer Anlagen verbunden sind, zunächst regelmäßig zu Kostensteigerungen führen. Bei großen finanzstarken Eisenbahnunternehmen stehen die damit verbundenen Investitionen in einer deutlich anderen Relation als bei kleineren Gesellschaften, für die sie eine größere Belastung darstellen. Für Letztgenannte kann der mit einer entsprechenden Anpassung verbundene Aufwand "sogar die Einstellung des Betriebs nach sich ziehen" und somit das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel einer Stärkung des Wettbewerbs auf der Schiene nachhaltig konterkarieren [Hein08b, S. 14].
Im Falle des Kanaltunnels etwa wurden die besonders hohen Sicherheitsanforderungen für die dort eingesetzten Lokomotiven von verschiedenen Seiten gar als Markteintrittsbarrieren gewertet. Die Bestimmungen für den Kanaltunnel sind wesentlich weitreichender als in den Alpentunneln. So waren 2004 erst zwei Lokomotiv-Flotten für Verkehre durch den Großbritannien mit dem europäischen Festland verbindenden Tunnel zugelassen - die des Eurotunnel-Betreibers und die "Class 52"-Loks des britischen Eisenbahnverkehrsunternehmens EWS [HoL05, S. 22].
Die mit dem Sicherheitsfaktor verbundene hohe Kostenintensität lässt sich ebenfalls anhand des von der DB AG implementierten Notfallmanagements verdeutlichen. Es wurde für die Erfüllung der dem Eisenbahnunternehmen nach § 4 Abs. 1 AEG auferlegten Sicherheitspflicht eingerichtet; für die für Brandschutz und technische Hilfeleistung zuständige Organisationseinheit werden jährliche Kosten in Höhe eines zweistelligen Millionenbetrags veranschlagt [Bieg09, S. 7].
Sicherheit als Hemmnis eisenbahnbetrieblicher Leistungsfähigkeit
So, wie der Faktor Leistungsfähigkeit prinzipiell sämtliche Verkehrsträger im Rahmen ihrer jeweiligen Systemspezifika betrifft, ist er auch im Schienenverkehr eine bedeutsame Zielgröße. Bestrebungen, die darauf abzielen, vorhandene Produktionsfaktoren, wie sie beispielsweise Rollmaterial und Infrastruktur darstellen, möglichst effektiv für die Erbringung von Transportdienstleistungen einzusetzen, werden dabei von verkehrspolitischen wie auch betriebswirtschaftlichen Interessen geleitet.
Um eine angemessene Leistungsfähigkeit des Systems Bahn gewährleisten zu können, muss eine hinreichende Streckenkapazität geschaffen werden, welche sich wiederum über hohe Geschwindigkeit und große Zugdichte definiert. Sicherheitsaspekte und Parameter für die Kapazität stehen sich jedoch häufig diametral gegenüber [Eich07a, S. 6]. Aus dem fahrplanmäßigen Begegnungsverbot von Güter- und Personenzügen innerhalb zweigleisiger Tunnel ergeben sich so zum Beispiel dispositive Einschränkungen, die eine maximale Auslastung der entsprechenden Infrastrukturabschnitte möglicherweise gravierend erschweren [EBA08, S. 23]. Auch können bei einer konventionellen Leit- und Sicherungstechnik die zum Schutz vor Schienenfahrzeugkollisionen eingerichteten sog. Durchrutschwege, die beim Überfahren Halt zeigender Signale das gefährdungsfreie Anhalten der betreffenden Züge sicherstellen sollen, die gleichzeitige Durchführung angrenzender Zugfahrten verhindern. Ein Umstand, der beispielsweise die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) [Fehler in 'zlise'-Referenz: falsche Kategorie des Zieleintrags] 2005 dazu bewog, ihre die punktförmige Zugbeeinflussung (PZB) behandelnde Dienstvorschrift zu revidieren - zugunsten einer höheren Streckenleistungsfähigkeit und zulasten des allgemeinen Sicherheitsniveaus [Schm06b, S. 185].
Demgegenüber bieten moderne Systeme zur Zugsicherung und -steuerung durchaus die Möglichkeit, Kapazitätssteigerungseffekte mit erhöhten Sicherheitszielen zu verknüpfen. So kann etwa mit Hilfe des European Train Control Systems (ETCS) die Geschwindigkeit jedes Zuges unter Berücksichtigung seines individuellen Bremsvermögens kontinuierlich überwacht und somit ein rechtzeitiges Anhalten vor Gefahrenpunkten sichergestellt werden. Zugleich erlaubt das ETCS die weitreichende Reduzierung von Blockabständen, also von Gleisbereichsunterteilungen, die jeweils nur durch ein Schienenfahrzeug belegt sein dürfen. Auf diese Weise lassen sich dichtere Zugfolgen erreichen, ohne dabei den für eine sichere Betriebsdurchführung notwendigen Bremswegabstand zwischen zwei Zügen zu unterschreiten. [DBAG12t]