Rechtliche Rahmenbedingungen für eine Neuverteilung des städtischen öffentlichen Raums
Erstellt am: 27.02.2025 | Stand des Wissens: 27.02.2025
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Die Neuverteilung des öffentlichen Raums kann sich in Deutschland auf verschiedene rechtliche Möglichkeiten stützen, um die Nutzung und Gestaltung von Verkehrsflächen, Plätzen und anderen öffentlichen Flächen zu verändern. Das Raumordnungsgesetz [ROG] liefert bundesweit die rechtliche Grundlage für Planungsprozesse, die Ländersache sind. Im ROG sind Aufgaben, Leitvorstellungen und Grundsätze der deutschen Raumordnung festgelegt. Somit stellt das ROG einen allgemeinen rechtlichen Rahmen für Prozesse der Neuverteilung von öffentlichem Raum. Die Länder können das ROG durch weitere Gesetze und Richtlinien ergänzen. Daher können sich die konkreten rechtlichen Grundlagen für die Neuverteilung des öffentlichen Raums von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. Das Baugesetzbuch (BauGB) und das Straßenverkehrsrecht (StVO) sind weitere relevante Gesetzesgrundlagen.
Straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen umfassen dabei unter anderem folgende Möglichkeiten für die Neuverteilung des öffentlichen Raums [StVO]:
- Tempolimits und Verkehrsberuhigung (Paragrafen 3 und 41 StVO)
- Einrichtung von Fußgängerzonen (Paragrafen 39 und 41a StVO) zur Einschränkung des Fahrzeugverkehrs, um Begegnungs- und Aufenthaltssorte zu schaffen
- Kennzeichnung und Regelung von Fahrradinfrastruktur (Paragrafen 2 und 5 StVO), um die Verkehrssicherheit für Radfahrende zu erhöhen, die Attraktivität der Radinfrastruktur zu steigern und die Nutzung des Fahrrades zu fördern
- Verwendung von Verkehrszeichen und -signalisierung (Abschnitte 2 und 3 der StVO) zur Steuerung des Verkehrs und zur Gestaltung des öffentlichen Raums für alle Verkehrsteilnehmenden (zum Beispiel mithilfe von Zebrastreifen, Lichtsignalanlagen und Verkehrsschildern)
- Regelung des ruhenden Verkehrs (Paragrafen 12 und 13 StVO) zur Verwaltung des Parkraumes (Parkraummanagement) unter anderem durch Parkverbote, Parkgebühren und Anwohnerparkausweise
- Regelung einiger Aspekte des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) (Paragraf 27 StVO), zum Beispiel die Nutzung von Busspuren und Haltestellen
- Verkehrsplanung und -steuerung (Paragrafen 45 und 46 StVO) zur Einführung temporärer Verkehrsberuhigungsmaßnahmen (zum Beispiel verkehrsberuhigte Zonen, temporäre Fußgängerzonen oder temporäre Radwege) und zur Öffnung von Räumen für nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmende. So können Reallabore und Realexperimente ermöglicht werden, die alternative Einrichtungen und Nutzungen für Bürgerinnen und Bürger erlebbar machen.
Insgesamt ist die StVO jedoch primär auf die Sicherheit und den reibungslosen Ablauf des Straßenverkehrs, insbesondere des motorisierten Individualverkehrs (MIV), ausgerichtet [AgVe18, S. 9]. Speziell Paragraf 45 Absatz 9 StVO wird von Verkehrsexpertinnen und -experten als problematisch bewertet. Die Norm beruht auf der Annahme, dass durch den Rückbau oder die Umwidmung von Verkehrsflächen des MIV der fließende Verkehr beeinträchtigt würde. Nicht berücksichtigt wird das Verlagerungspotenzial durch die Schaffung attraktiver und sicherer Fuß- und Radwege, wodurch die Kapazität des Straßennetzes erhöht werden kann, indem der Verkehr insgesamt auf umwelt- und ressourcenschonendere Verkehrsmittel verlagert wird. [AgVe18]
In den von der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. (FGSV) im August 2022 veröffentlichten Empfehlungen zur Anwendung und Weiterentwicklung von FGSV-Veröffentlichungen im Bereich Verkehr zur Erreichung von Klimaschutzzielen wurden bestehende Richtlinien um ergänzende Anforderungen erweitert. Diese Anforderungen stärken den Umweltverbund und stellen gleichzeitig den Kfz-Verkehr zurück, zum Beispiel durch die Empfehlungen zur Priorisierung des Radverkehrs an Engstellen oder zur Prüfung einer Geschwindigkeitsreduktion im Mischverkehr [FGSV22].
Bei großflächigen Veränderungen reichen die Mittel der StVO allein nicht aus und baurechtlicher Instrumente müssen herangezogen werden. Das Baugesetzbuch (BauGB) als zentrales Gesetz für die räumliche Planung und die Nutzung des Bodens bietet verschiedene Möglichkeiten zur Neuverteilung des Raums und zur Gestaltung von öffentlichen Flächen, um den Bedürfnissen der Gemeinschaft gerecht zu werden und die Schaffung einer nachhaltigen und lebenswerten Umgebung zu fördern [BauGB]:
- Bauleitplanung (Paragrafen 2, 5, 9, 30 und 31 BauGB) zur Regelung der Nutzung und Bebauung von Grundstücken, Straßen und Plätzen (Bebauungsplan (B-Plan)) und zur Vorgabe langfristiger Entwicklungsziele (Flächennutzungsplan (FNP))
- Städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen (Paragraf 165 BauGB) zur gezielten Neugestaltung von Gebieten oder Quartieren, zum Beispiel durch die Schaffung von Grünflächen und Infrastruktur
- Bestimmungen zum Umwelt- und Landschaftsschutz (Paragrafen 1 und 8 BauGB) zur Regelung der Nutzung und Gestaltung von Landschaften und Naturräumen und zur Unterstützung der Schaffung von Grünflächen und des Schutzes natürlicher Ressourcen
- Verdichtung und Nachverdichtung (Paragrafen 34 und 34a BauGB) zur effizienten Nutzung des Raumes, zur Erhöhung der urbane Dichte zu erhöhen und den und zur effizienteren Verteilung des öffentlichen Raums
- Förderung von Fußgänger- und Fahrradverkehr (Paragraf 9a BauGB) durch die Integration von Fußgänger- und Fahrradinfrastruktur in städtische Planungen, um aktive Mobilität zu fördern
- Quartiersentwicklung (Paragraf 11 BauGB) zur (kleinräumigen) Entwicklung von lebenswerten Quartieren
- Bürgerbeteiligung und Partizipation (Paragrafen 3 und 4 BauGB) durch Einbezug der Gemeinschaft und Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen
Bei größeren raumbedeutsamen Infrastrukturprojekten oder Umgestaltungen kann ein Planfeststellungsverfahren erforderlich sein. Raumbedeutsam sind nach Paragraf 3 Absatz 1 Nummer 6 ROG [ROG] Planungen einschließlich der Raumordnungspläne, Vorhaben und sonstige[n] Maßnahmen, durch die Raum in Anspruch genommen oder die räumliche Entwicklung oder Funktion eines Gebietes beeinflusst wird, einschließlich des Einsatzes der hierfür vorgesehenen öffentlichen Finanzmittel. Das Raumordnungsgesetz [ROG] als Bundesgesetz enthält die verkehrspolitischen Leitbilder und rahmenrechtliche Vorgaben zu Aufgaben der Raumordnung.
Auf kommunaler und zunehmend auch regionalen Ebene dienen informelle, nicht vom Gesetzgeber vorgeschriebene Verkehrsentwicklungspläne (VEP) der systematischen Vorbereitung und Durchführung von Entscheidungsprozessen mit der Absicht, die Ortsveränderungen in einem Planungsraum durch "siedlungsstrukturelle, bauliche, betriebliche, ordnungs-, preis-, tarifpolitische und informative Maßnahmen im Sinne bestimmter Ziele zu beeinflussen" [Ahrens08, S. 147]. Durch den zunehmenden Einfluss der Europäischen Union (EU) wurden zudem neue Gesetze und damit verbundene formale Planwerke geschaffen: Nahverkehrsplan (NVP), Luftreinhalteplan (LRP) und Lärmminderungsplan (LMP) [FGSV13, S. 5 f.]. Werden diese Planwerke nicht mit dem Verkehrsentwicklungsplan (VEP) koordiniert, kann dies zu führt erheblichem Aufwand durch Doppelplanungen und teilweise gegenläufigen Maßnahmen vor allem zwischen LRP und LMP führen.
Die konkreten rechtlichen Möglichkeiten und Verfahren können von Gemeinde zu Gemeinde und von Bundesland zu Bundesland variieren. Die Planung und Umsetzung von Maßnahmen erfordern daher eine enge Zusammenarbeit zwischen den Kommunen und den zuständigen Behörden sowie eine frühzeitige Bürgerbeteiligung, um eine ausgewogene und demokratisch legitimierte Neuverteilung des öffentlichen Raums sicherzustellen. Die oben genannten rechtlichen Mittel können für eine (temporäre) Neuverteilung des Raums genutzt werden. Gegebenenfalls müssen jedoch Änderungen von bestehenden Plänen oder Ausnahmen beantragt werden, um öffentliche Räume dauerhaft umgestalten zu können. Zudem besteht die Notwendigkeit von vereinfachten und beschleunigten Sonder- und Änderungsverfahren, wie sie zum Beispiel im Rahmen der Novellierung des Raumordnungsgesetzes beschlossen wurden, "um private wie staatliche Investitionen zur Transformation des Landes schnell, effizient und zielsicher umsetzen zu können" [BMWSB22].
Ergänzend zu den vorgestellten Maßnahmen sind in Abbildung 1 weitere, insbesondere (steuer-) rechtliche Push- und Pull-Maßnahmen zu nennen, die auf Bundesebene Stellschrauben für eine klimaverträglichere, nachhaltigere und gerechtere Abwicklung von Verkehren darstellen, die wiederum eine Neuverteilung des öffentlichen Raums in urbanen Gebieten fördern oder auch forcieren kann.
![Abb. 1: Bausteine für einen klimaverträglichen Verkehr [Eintrag-Id:568834, S.4] Bild4.jpg](/servlet/is/590748/Bild4.jpg)