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Kommunale Verkehrsinfrastruktur: Finanzierungsbedarf und -quellen und institutionelle Reformoptionen

Erstellt am: 07.01.2021 | Stand des Wissens: 07.01.2021
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch

Die Aufgaben der Kommunen im Verkehrsbereich bestehen aus zwei Hauptkomponenten: Zum einen Bau, Betrieb und Unterhalt der kommunalen Straßeninfrastruktur (die sogenannte Baulast der Kommunen), zum anderen Investitionen und Betrieb des öffentlichen Straßenpersonenverkehrs (ÖSPV). Der ÖSPV besteht aus den kommunalen Bus-, Straßenbahn- und U-Bahnverkehren. Zusammen mit dem Schienenpersonennahverkehr, der jedoch den Ländern obliegt, bildet er den öffentlichen Personennahverkehr.
Beide Bereiche, kommunale Straßeninfrastruktur und ÖSPV, werden im Folgenden als kommunale Verkehrsinfrastruktur bezeichnet (auch wenn der Betrieb des ÖSPV im ökonomischen Sinne keine Infrastruktur darstellt). In dieser Wissenslandkarte Kommunale Verkehrsinfrastrukturfinanzierung werden sie von der finanziellen Seite beleuchtet. Andere Aufgaben der Kommunen im Verkehrsbereich, wie Verkehrsplanung und Verkehrspolizei, werden nicht betrachtet und spielen auch in finanzieller Hinsicht eine untergeordnete Rolle. Hingegen wird am Rande auch auf den Schienenpersonennahverkehr eingegangen, der zwar Ländersache ist, doch auch eine wichtige Rolle für den Nahverkehr der Kommunen spielt.
Die kommunale Verkehrsinfrastruktur war, wie auch Teile der Verkehrsinfrastrukturen von Bund und Ländern, über Jahrzehnte unterfinanziert. Dies war sicherlich eine der Spätfolgen der deutschen Wiedervereinigung, die die öffentlichen Haushalte stark beanspruchte und zu einer zeitweisen Verlagerung von Ausgaben aus den alten in die neuen Bundesländer und somit vom Bestandsnetzerhalt in den Neubau von Infrastrukturen geführt hatte. Erst in jüngster Zeit hat sich die Unterfinanzierung aufgelöst, doch bleibt abzuwarten, ob sich das Corona-Ereignis wieder negativ auswirken wird.
Bereits die Kommission Verkehrsinfrastrukturfinanzierung unter der Leitung von Wilhelm Pällmann (Pällmann-Kommission), des früheren Vorstands der Deutschen Bundesbahn, sprach in ihrem Bericht 2000 von einer Instandhaltungskrise des Verkehrs. In der Folge hat sich ein hoher Investitionsrückstand aufgetürmt. Als im Zuge der Finanzkrise von 2008 eine weitere Verschärfung der Situation drohte, wurde die Kommission Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung unter der Leitung von Karl-Heinz Daehre, des früheren sachsen-anhaltischen Verkehrsministers, eingesetzt, um die Problemlage zu quantifizieren und Vorschläge zur Abhilfe zu erarbeiten. In ihrem Abschlussbericht von 2012 [VIFG12a] wurde der zusätzliche Finanzbedarf der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland insgesamt auf jährlich 7,2 Milliarden Euro für die Verkehrsträger Schienen, Straßen und Wasserstraßen und alle Baulastträger (Bund, Länder und Kommunen) beziffert. Neben 4,55 Milliarden Euro zusätzlicher Mittel für die bedarfsgerechte Erhaltung der Infrastruktur wurden für die nächsten 15 Jahre Kosten von 2,65 Milliarden Euro jährlich angesetzt, um den durch die Unterfinanzierung aufgebauten Nachholbedarf abzuarbeiten.
Durch die Arbeit der sogenannten Daehre-Kommission gibt es auch quantitative Schätzungen für den laufenden Finanzbedarf der Kommunen im Verkehrsbereich sowie über deren Nachholbedarf für den Abbau des Investitionsstaus innerhalb von 15 Jahren. Diese Zahlen können als Anhaltspunkt für aktuellere Einschätzungen dienen. Der Bedarf für die bauliche Erhaltung in den Kommunen wurde mit 1,3 Milliarden Euro beziffert. Davon 950 Millionen Euro für die Gemeindestraßen und 350 Millionen Euro für den ÖSPV. Der jährliche Abbau des Investitionsstaus von 2012 bis 2026 wurde mit 1,45 Milliarden Euro veranschlagt.
Die Kommission hat auch Vorschläge für eine langfristig stabile Verkehrsinfrastrukturfinanzierung und für einen adäquaten institutionellen Rahmen erarbeitet. So sollten die zweckgebundenen Finanzierungsquellen der Kommunen für den Verkehr erweitert werden und übergreifende regionale Verkehrsfinanzierungsgesellschaften (Fonds) eingerichtet werden, die diese Mittel einschließlich zu verstetigender Finanzzuweisungen des Bundes und der Länder für die kommunalen Verkehrsinfrastrukturen verteilen und verwenden sollten. Durch langfristige Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen kann eine stabile Finanzierungsgrundlage für diese Gesellschaften geschaffen werden.
Die anschließend arbeitende Kommission Nachhaltige Verkehrsinfrastrukturfinanzierung von 2013 unter Leitung des ehemaligen Bundesverkehrsministers Kurt Bodewig hat diese Vorschläge teilweise bekräftigt und einen Zeitplan zu ihrer schrittweisen Umsetzung entworfen. [BoKo13a]
Zwei Ereignisse führten dazu, dass die institutionellen Vorschläge der Daehre-Kommissionen nicht weiter verfolgt wurden. Im Anschluss an die Bodewig-Kommission konzentrierte sich die politische Aktivität zunächst auf die Bundesebene (Erweiterungen der Lkw-Maut, Diskussionen um die Gründung der Autobahn GmbH sowie um die Einführung einer Autobahnmaut für Pkw). Dies verdrängte die von der Daehre-Kommission erarbeiteten und vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesverkehrsminister 2013 in einer ausführlichen Stellungnahme [WBVM13] weitergeführten, breiteren Vorschläge, welche auch die kommunale Ebene mit einbezogen. Wichtiger war, dass sich die finanzielle Situation aller öffentlichen Haushalte seit etwa 2015 längerfristig unerwartet gut entwickelte. Somit konnte das dringend benötigte Geld auch auf den herkömmlichen Finanzierungswegen generiert werden. Die Vorarbeiten der Kommissionen haben dabei sicherlich die allgemeine Bereitschaft erhöht, die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung künftig stärker zu berücksichtigen. Offen blieb allerdings zunächst die Frage, wie die Infrastrukturfinanzierung langfristig abgesichert und stabilisiert werden kann, zu der die Kommissionen konkrete Vorschläge entwickelt hatten.
Auch auf diese Frage wurden dann Teilantworten gefunden, angeregt durch weitere Impulse von außen. Sie kamen zum einen aus der Klimapolitik, die spätestens seit dem Pariser Klimagipfel von 2015 immer stärkeres Gewicht gewann, und zum anderen aus dem allgemeinen technischen Fortschritt im Kontext von Digitalisierung und Fahrzeugentwicklung. Um den Verkehr für die Energiewende und eine allgemeine Modernisierung fit zu machen, muss eine stabile finanzielle Grundlage geschaffen und zunächst auch der Nachholbedarf abgebaut werden. Die Programme, die in diesem Zusammenhang ab 2019 auf den Weg gebracht wurden (Verstetigung und Aufstockung der Mittel des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes, der Regionalisierungsmittel und der Eisenbahninfrastrukturfinanzierung) besitzen nicht nur ein hohes Finanzvolumen, sondern auch eine lange Laufzeit bis 2030 und darüber hinaus. Dies könnte den Bedarf nach langfristigen institutionellen Lösungen (wie die von den Kommissionen vorgeschlagenen Verkehrsfinanzierungsgesellschaften) bis auf Weiteres obsolet machen. Im Jahr 2019 wurden zudem vom Bundesverkehrsminister das Bündnis moderne Mobilität und das Nationale Kompetenznetzwerk für nachhaltige urbane Mobilität als Gesprächs- und Interaktionsplattformen zwischen Bund, Ländern und Kommunen eingerichtet. In diesen Plattformen könnten später auch die Umrisse von Verkehrsfinanzierungsgesellschaften entwickelt werden, wenn diese einmal für notwendig erachtet werden. 
Die im März 2020 einsetzende Corona-Krise erschüttert die Finanzlage der öffentlichen Haushalte und birgt die Gefahr, dass die gerade angestoßenen langfristigen Programme früher oder später wieder vermindert oder abgebrochen werden.
Ansprechpartner
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Kommunale Verkehrsinfrastruktur: Finanzierungsbedarf und -quellen und institutionelle Reformoptionen (Stand des Wissens: 07.01.2021)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?516030
Literatur
[BoKo13a] Kommission Nachhaltige Verkehrsinfrastrukturfinanzierung, 2013/10/02
[VIFG12a] Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft mbH (Hrsg.) Bericht der Kommission "Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung", 2012/12
[WBVM13] Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hrsg.) Verkehrsfinanzierungsreform - Integration des kommunalen Verkehrs, 2013
Glossar
Lkw Lastkraftwagen (Lkw) sind Kraftfahrzeuge, die laut Richtlinie 1997/27/EG überwiegend oder sogar ausschließlich für die Beförderung von Gütern und Waren bestimmt sind. Oftmals handelt es sich dabei um Fahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse zwischen 3,5 und 12 Tonnen. In Einzelfällen kann die zulässige Gesamtmasse diese Werte jedoch auch unter- beziehungsweise überschreiten, sofern das Kriterium der Güterbeförderung gegeben ist. Lastkraftwagen können auch einen Anhänger ziehen.
Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung
Bei der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung (LuFV) handelt es sich um ein Vertragswerk zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Eisenbahninfrastrukturunternehmen des Bundes (DB Netz AG, DB Station&Service AG, DB Energie GmbH). Gegenstand sind Maßnahmen, die der Erhaltung und Verbesserung des Zustands der Schienenwege des Bundes dienen (Ersatzinvestitionen und Maßnahmen der Instandhaltung).
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
Schienenpersonennahverkehr
Gemäß Regionalisierungsgesetz (RegG) § 2 handelt es sich bei einer auf der Schiene erbrachten Beförderungsdienstleistung um ein Angebot des Nahverkehrs, "wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle [...] die gesamte Reiseweite 50 Kilometer oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nicht übersteigt" [RegG, § 2]. Zur Erfüllung der Daseinsvorsorge wird der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) von den Ländern bestellt und unterstützt. Der SPNV ist eine Sonderform des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Der ÖPNV ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert, der SPNV zusätzlich noch im Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG).
Baulastträger Der Baulastträger ist die für die Planung, den Bau, den Betrieb und die Unterhaltung einer Straße verantwortliche Institution.
Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz
Das 1971 in Kraft getretene Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) regelt die Finanzhilfen des Bundes zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden. Gefördert werden verschiedene Baumaßnahmen von Bahnen (besonders Eisenbahnen, Straßenbahnen, Hoch- und Untergrundbahnen), wobei diese dem öffentlichen Personennahverkehr dienen müssen. Voraussetzung für die Förderung ist vor allem ein Kosten-Nutzen-Faktor über 1,0 im Rahmen der Standardisierten Bewertung.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?516033

Gedruckt am Freitag, 26. April 2024 19:06:40