Forschungsinformationssystem des BMVI

zurück Zur Startseite FIS

Mehrkanalsysteme im Handel

Erstellt am: 21.08.2013 | Stand des Wissens: 27.04.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Technische Universität Hamburg, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Prof. Dr.-Ing. H. Flämig

Unter Mehrkanalsystemen im Handel, englisch Multi Channel Retailing, wird die Nutzung mehrerer paralleler Absatzkanäle durch Einzelhandelsunternehmen verstanden [SK06]. Der Endkunde kann beim Warenkauf zwischen Onlineportalen, dem stationären Einzelhandel oder dem Kataloghandel wählen. Handelsunternehmen wählen Mehrkanalstrategien unter anderem, um Kunden über ein breites Absatzkanalspektrum anzusprechen [Schr12], Absatzrisiken auf mehrere Vertriebswege zu verteilen oder um Kostenvorteile durch die Nutzung gemeinsamer Infrastruktur von Vertriebskanälen zu erzielen [Lieb08].

Mehrkanalstrategien zeichnen sich durch eine hohe Transportwirkung aus. Zum einen im Hinblick auf die Wahl der Vertriebskanäle, die den Verkaufsort und die Transportwege zwischen Handelsunternehmen und Kunden festlegen, zum anderen im Hinblick auf die "innerbetriebliche" Integration von Transportsystemen verschiedener Absatzkanäle eines Handelsunternehmens.

Schröder (2005) unterscheidet Vertriebskanäle anhand von vier sogenannten Kontaktprinzipien (siehe Abbildung 1). Kontaktprinzipien beschreiben unterschiedliche Arten, wie der Kunde seine Nachfrage artikulieren kann und legen den Ort des Warentransfers von Verkäufer auf Käufer fest. Gleichzeitig unterscheiden sich Kontaktprinzipien hinsichtlich der zurückgelegten Wegstrecken und Warentransporte durch Handelsunternehmen und Kunden. Beim Residenzprinzip sucht der Nachfrager den Anbieter auf, was dem Vertriebsweg des stationären Einzelhandels entspricht. Der Ort der Nachfrage ist das Ladenlokal des Händlers. Der Konsument legt die Wegstrecke zum Verkaufsort zurück und transportiert die erworbenen Waren anschließend zum Bestimmungsort. Beim Domizilprinzip, auch ambulanter Einzelhandel genannt, sucht der Anbieter den Nachfrager auf, zum Beispiel im Rahmen einer Verkaufsveranstaltung im Haus des Kunden. Der Anbieter transportiert die Waren zum Bestimmungsort, für den Nachfrager entstehen keine Wege. Beim Treffprinzip des halbstationären Einzelhandels begeben sich Anbieter und Nachfrager zum Verkaufsort außerhalb ihres Domizils, zum Beispiel auf Wochenmärkte. Der Anbieter transportiert die Waren zum Verkaufsort, der Nachfrager transportiert diese dann zum Ort des Ver- oder Gebrauchs. Beim Distanzprinzip treten Anbieter und Nachfrager nicht in physischen Kontakt, zum Beispiel im Versandhandel. In diesem Fall besorgt der Anbieter den Warentransport zum Käufer [Schr05b].
Folie1.JPGAbbildung 1: Kontaktprinzipien im Einzelhandel [eigene Darstellung in Anlehnung an Schr05b] (Grafik zum Vergrößern bitte anklicken)
In Mehrkanalsystemen werden unterschiedliche Kontaktprinzipien, wie beispielsweise stationäre Geschäfte und Internetshops, miteinander kombiniert (siehe Abbildung 2). Die Wahl der Kontaktprinzipien/Absatzkanäle obliegt dabei letztendlich den Handelsunternehmen selbst. Aus diesem Grund unterscheiden sich Mehrkanalsysteme in ihrer Verkehrswirkung je nach Handelsunternehmen.
Folie2.JPG
Abb. 2: Multi Channel Retailing [eigene Darstellung in Anlehnung an Schra13] (Grafik zum Vergrößern bitte anklicken)
Mehrkanalsysteme lassen sich in verschiedene Kategorien unterteilen. Als Hauptkategorien gelten die Betriebstypendiversifikation, die Vertriebstypendiversifikation sowie Mischformen. Bei der Betriebstypendiversifikation handelt es sich um den parallelen Einsatz mehrerer stationärer Absatzkanäle ("Betriebstypen"), was beispielsweise im Lebensmitteleinzelhandel häufig auftritt. Bei der Vertriebstypendiversifikation werden hingegen mehrere nicht-stationäre Absatzkanäle ("Vertriebstypen") parallel eingesetzt. Ein Beispiel hierfür ist die Otto Handelsgruppe, die unterschiedliche Katalogversand-Handelsschienen parallel einsetzt (zum Beispiel Otto, Heine, Baur, Schwab). Jedoch fällt auch der Multi-Channel-E-Commerce unter diese Kategorie, indem mehrere digitale Absatzkanäle miteinander kombiniert werden.

Dieser klare Fokus auf stationäre oder auf nicht-stationäre Kanäle bei Mehrkanalsystemen wird allerdings immer seltener. Häufiger kommt es zu Mischformen, bei denen ein paralleler Einsatz (mehrerer) stationärer und nicht- stationärer Absatzkanäle erfolgt [Schra13]. Die effiziente Verknüpfung der einzelnen (stationären und nicht- stationären) Kanäle stellt sich hierbei als die zentrale Herausforderung für Handelsunternehmen dar. So rangiert bei zwei Dritteln der Handelsunternehmen in Deutschland die kanalübergreifende Prozessintegration an erster Stelle der Prioritätenliste [KPMG16]. Aus der Transportperspektive eines Handelsunternehmens besteht ein wesentliches Ziel des Mehrkanalhandels in der Reduzierung von Transporten beziehungsweise von Transportkosten durch die Integration der Transportsysteme unterschiedlicher Absatzkanäle. Hierunter fallen das Koordinieren von Transporten (Hin- und Rückfahrten, Fahrten zwischen unterschiedlichen Lägern/Verkaufsorten), die Vermeidung von Leerfahrten, die Erhöhung der Fahrzeugauslastung, die Reduzierung von Rampenkontakten oder die Konsolidierung von Lieferungen zwischen alternativen Kanälen [Zent08]. Gleichzeitig steigt jedoch die Komplexität des logistischen Systems, da beispielsweise unterschiedliche Lieferfenster, Transportkapazitäten, Öffnungszeiten oder Belieferungsarten (zum Beispiel direkte Kundenbelieferung im Distanzhandel) berücksichtigt werden müssen. Zudem stehen dem Ziel der Transport(kosten)minimierung andere Ziele gegenüber, die tendenziell zu einer Erhöhung des Transportaufwands und der Transportkosten führen. Hierzu zählt zum Beispiel die Notwendigkeit bedarfsgerechter Belieferungen in bestimmten Absatzkanälen (zum Beispiel im Onlinehandel), die hohe Lieferfrequenzen und/oder geringe Transportvolumina erfordern. Auch die durch eine Mehrkanalstrategie erzielte Reduzierung von Lagerkapazitäten in Handelsunternehmen kann dazu führen, dass häufigere Lieferungen notwendig werden [Zent08]. Dadurch steigen die Transportkilometer und die Transportkosten an.
Eine abschließende Klärung, ob Mehrkanalstrategien insgesamt letztlich zu Transport(kosten)einsparungen führen oder nicht, kann deshalb nicht allgemein geklärt werden, sondern bedarf einer Einzelfallprüfung. Laut Gesamtbetrachtungen des Einzelhandels in Europa sind die Transportkosten im Jahr 2022 im Durchschnitt um 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr angestiegen. Auf einigen Strecken wie Polen-Deutschland sogar um 24 Prozent. Hinzu kommt, dass der Transport sich auch in Zukunft vor weitere Herausforderungen, wie einen zunehmenden Kostendruck, stetig steigende Anforderungen an die Leistung der Lieferkette sowie die Integration neuer Technologien in der Supply Chain gestellt sieht [KPMG16, LGH23].
Die Cross-Channel Strategien baut auf der beschriebenen Mehrkanalstrategie auf. Sie ermöglicht die Interaktion und Integration von verschiedenen Vertriebskanälen. Beispiele hierfür sind Online-Bestellungen, welche im stationären Shop abgeholt werden (Click and Collect) oder die Rückgabe von Online-Käufen im stationären Shop. Die Omni-Channel Strategie geht hier noch einen Schritt weiter und versucht dem Kunden den Übergang zwischen den verschiedenen Vertriebskanälen barrierefrei zu ermöglichen. Der Fokus liegt auf der Interaktion vom Kunden mit der Vertriebsmarke statt mit dem Vertriebskanal [YrSaNu18].
Ansprechpartner
Technische Universität Hamburg, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Prof. Dr.-Ing. H. Flämig
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Handelslogistik (Stand des Wissens: 27.04.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?415841
Literatur
[KPMG16] KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, EHI Retail Institute GmbH, Handelsverband Deutschland - HDE e.V., Kantar TNS (ehemals TNS Infratest), , (Hrsg.) Trends im Handel 2025, 2016
[LGH23] Sandra Lehmann, Studie: Transportkosten lagen 2022 auf Rekordniveau, 2023/03/09
[Lieb08] Hans-Peter Liebmann, Joachim Zentes, Bernhard Swoboda (Hrsg.) Handelsmanagement, Ausgabe/Auflage 2. Auflage, Franz Vahlen / München, 2008
[Schr05b] Hendrik Schröder Multichannel-Retailing: Marketing in Mehrkanalsystemen des Einzelhandels, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2005
[Schr12] Hanna Schramm-Klein Multi Channel Retailing, Erscheinungsformen und Erfolgsfaktoren, veröffentlicht in Handbuch Handel: Strategien - Perspektiven - Internationaler Wettbewerb, 2012
[Schra13] Schramm-Klein, Hanna, Multi Channel Retailing: Erscheinungsformen und Erfolgsfaktoren, 2013
[SK06] Hanna Schramm-Klein Multi-Channel-Retailing - Erscheinungsformen und Erfolgsfaktoren, veröffentlicht in Handbuch Handel, Gabler, 2006, ISBN/ISSN 978-3-8349-9160-7
[YrSaNu18] Yrjölä, Mika, Saarijärvi, Hannu, Nummela, Henrietta The value propositions of multi-, cross-, and omni-channel retailing, 2018/10/11
[Zent08] Joachim Zentes, Hanna Schramm-Klein Neue Anforderungen an die Handelslogistik - Implikationen aus Theorie und Praxis mit besonderem Fokus auf Multi-Channel-Systemen des Handels, veröffentlicht in Beiträge zu einer Theorie in der Logistik, Springer / Berlin Heidelberg, 2008, ISBN/ISSN 978-3-540-75642-2
Glossar
Supply Chain Als Supply Chain (Liefer- oder Wertschöpfungskette) bezeichnet man ein organisationsübergreifendes Netzwerk, welches als Gesamtsystem Güter für einen bestimmten Markt hervorbringt. Die heutigen Supply Chains sind aufgrund der Vielzahl von beteiligten Zulieferern, Dienstleistern und Kunden - die wiederum an anderen Supply Chains beteiligt sein können - sehr komplexe, interdependente Gebilde. Treffender müsste daher eine Supply Chain, aufgrund der häufig vorkommenden netzwerkartigen Struktur der zusammenarbeitenden Unternehmen, als "Supply Network" bezeichnet werden.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?415798

Gedruckt am Freitag, 19. April 2024 01:30:26