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Marktstellung konventioneller Angebote des Schienenpersonenfernverkehrs

Erstellt am: 17.10.2012 | Stand des Wissens: 22.04.2022
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike


Vorrangig als lokbespannte Züge verkehrend, gestaltete sich das Angebot des Schienenpersonenfernverkehrs (SPFV) in der Bundesrepublik Deutschland in der Vergangenheit ausgesprochen heterogen. Nach Einführung des InterCity (IC) im Jahre 1971 umfasste der SPFV in Westdeutschland (BRD) mit dem Eilzug, dem D-Zug und dem IC-/Trans-Europ-Express (TEE)-System drei Produktgruppen, welche 1978 eine Gesamtverkehrsleistung von 20,2 Milliarden Personenkilometern (Pkm) erbrachten [Jaen09, S. 263]. Getrieben durch einen steigenden Motorisierungsgrad und die damit einhergehende intermodale Wettbewerbsverschärfung sah sich die Fernverkehrssparte der Deutschen Bundesbahn (DB) ab Mitte der 1970er Jahre mit rückläufigen Geschäftsergebnissen konfrontiert. Eine vollständige Kostendeckung war nicht mehr gegeben. 1979 wurde aus diesem Grund das System "IC 79" eingeführt, welches folgende Ziele verfolgte:
  • Reisezeitverkürzung
  • Steigerung der Bedienungshäufigkeit
  • Ausbau von Direktverbindungen sowie
  • Komfort- und Reisequalitätserhöhung [Jaen09, S. 263 f.]
Gleichzeitig sollte das neue Angebotskonzept durch Kapazitäts- und Auslastungserhöhungen sowie eine effizientere Umlaufplanung verbesserte Rentabilitätswerte erzielen. Mit anfangs 33 "Systemhalten", vier Linien, einer Gesamtstreckenlänge von circa 3.100 Kilometern und Höchstgeschwindigkeiten zwischen 160 und 200 Kilometern pro Stunde konnten die betriebswirtschaftlichen Vorgaben umgesetzt werden. Im Zuge der sich daran anschließenden Angebotsausweitungen war eine weitere Steigerung der durch das IC-System erbrachten Verkehrsleistung zu verzeichnen (Abbildung 1). Grundlegende, im Rahmen des neuen Systems "IC 79" eingeführte Angebotsmerkmale, wie ein durchgängiger Stundentakt mit vergleichsweise großen Haltestellenabständen zwischen den bedeutendsten Städten der BRD und die Einrichtung von Korrespondenzhalten, welche es den Fahrgästen in bestimmten Knotenbahnöfen erlauben, mit geringem Zeitaufwand zwischen unterschiedlichen, am gleichen Bahnsteig haltenden Zügen umzusteigen, bilden auch heute noch wesentliche Grundeigenschaften des SPFV in Deutschland [Jaen09, S. 264 f.].

Abbildung 1 zeigt den mit der Umsetzung des Systems "IC 79" verbundenen, aufgrund höherer Deckungsbeiträge durchaus erwünschten, Kannibalisierungseffekt unter den Fernverkehrsprodukten der damaligen deutschen Bundesbahn (DB) beziehungsweise des heutigen Deutsche Bahn AG Konzern (DB AG). Während sich der im Jahre 1988 eingeführte InterRegio (IR) als auf geringere Beförderungsdistanzen ausgelegtes SPFV-Angebot bis zu seiner Einstellung 2003 erfolgreich im Markt etablieren konnte, verloren IC und EuroCity (EC) mit Beginn des Hochgeschwindigkeitsverkehrs (HGV) in Deutschland 1991 zunehmend Marktanteile an das höher positionierte ICE-System. [Jaen09, S. 266]. Inzwischen hat es alternative schienengebundene Fernreiseprodukte auf zahlreichen Strecken weitgehend verdrängt und dient immer stärker als Standardangebot im deutschen SPFV.
Abb. 1: SPFV-Produkte DB bzw. DB AG - Entwicklung VerkehrsleistungAbbildung 1: SPFV-Produkte DB beziehungsweise. DB AG - Entwicklung Verkehrsleistung [Jaen09, S. 265] 
400279_Abb_2_al.pngAbbildung 2: Entwicklung der Verkehrsleistung von SPFV-Produkten der DB AG [DBAG13a, S. 18; DBAG15c, S. 19; DB2016, S. 19; DBAG19b, S. 19; DBAG20i, S. 19] 
Jedoch ist der HGV nicht nur für einen deutlichen Attraktivitätsverlust der IC- beziehungsweise EC-Züge verantwortlich, auch das Beförderungsaufkommen im Nacht- und Autoreisezugverkehr wird ursächlich durch die mittlerweile auf Neu- und Ausbaustrecken erzielten Reisezeitverkürzungen geschwächt, da sich eine Vielzahl der Verbindungen durch HGV-Angebote adäquat substituieren lassen. Nachdem im Jahr 2013 die Autoreisezugverbindungen und 2016 die Nachtzugverbindungen (mit Schlafmöglichkeiten) der Deutschen Bahn eingestellt wurden, gibt es weitere Überlegungen hin zur Optimierung des grenzüberschreitenden Nachtzugverkehrs auf HGV-Strecken, um theoretisch mit Mittelstreckenflügen von bis zu 2.000 Kilometer in Konkurrenz zu treten. [Wein14, S. 168; SaOl14, S. 69 f.]
Grundsätzlich ist festzustellen, dass sich der konventionelle SPFV gegenwärtig in einer Sandwichposition zwischen dem Prestigeprodukt HGV und dem staatlich finanzierten Schienenpersonennahverkehr (SPNV) befindet, welchem im Anschluss an die Einstellung des InterRegio-Angebotes auch überregionale Verknüpfungsaufgaben zugewiesen wurden. Bedingt durch das sowohl von den höher als auch niedriger angesiedelten Produktgruppen ausgehende Kannibalisierungspotenzial, verliert der konventionelle SPFV für die Eisenbahnverkehrsunternehmen zusehends an Attraktivität - mit allen daraus folgenden Problemen für die Flächenbedienung und für Städte ohne Anschluss an den HGV [Bung12, S. 45 f.].
Prognosen legten nahe, dass auf Grund der geringen Rentabilität der meisten IC-Linien bis zum Jahr 2018 zwei Drittel der noch 2008 im Dienst befindlichen IC-Züge im Rahmen einer Optimierung der wirtschaftlichen Ergebnisse der DB Fernverkehr AG eingestellt sein werden [ProB08, S. 7 ff.]. Aktuelle Entwicklungen zeigen aber noch eine leicht steigende Verkehrsleistung (Millionen Personenkilometer für 2008: 10.136, 2017: 11.967) für IC/EC-Verkehre sowie nur eine geringfügige Verminderung (17 Prozent) der Reisezugwagen (2008: 1.503, 2017: 1.252). Es wird sich zeigen, ob zukünftig einzelne Bundesländer Angebotskürzungen im konventionellen SPFV durch regionalisierungsmittelfinanzierte Nahverkehrsleistungen auffangen müssen und inwiefern gegebenenfalls der Zuständigkeitsbereich der Aufgabenträger auf eine Bedienung überregionaler Verbindungen weiter auszudehnen ist [KCW08, S. 3.; DBAG09j; DBAG18c].
Mitbestimmt wird die zukünftige Entwicklung des konventionellen SPFV unter anderem durch die laufende Fahrzeugbeschaffungsstrategie der DB AG. Der Ende 2017 begonnene Regelbetrieb der neuen Fernverkehrstriebzüge ICE-4 wird eine langfristige Angleichung des IC- und ICE-Fahrzeugparks nach sich ziehen, da diese Fahrzeuge die gegenwärtig eingesetzten IC-, ICE 1- und ICE 2-Züge ersetzen sollen [Mini11, S. 296; Buse11, S. 16]. Andererseits werden seit Dezember 2015 die bisher lediglich im Nahverkehr genutzten Doppelstock-Züge in ihrer aktuellsten Version als Intercity 2 auch auf IC-Verbindungen eingesetzt [ElBa11, S. 83 f.; Mini11a].
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Konventionelle Zugangebote im Schienenpersonenfernverkehr (Stand des Wissens: 12.07.2018)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?403077
Literatur
[Bung12] Bunge, Stephan Qualitative und raumordnerische Schwächen im deutschen SPFV, veröffentlicht in Internationales Verkehrswesen, Ausgabe/Auflage 2/2012, DVV Media Group GmbH, Hamburg, 2012/02, ISBN/ISSN 0020-9511
[Buse11] Busemann, Andreas Hochgeschwindigkeitsverkehr in Deutschland, veröffentlicht in Deine Bahn, Ausgabe/Auflage 09/2011, Bahn Fachverlag GmbH, Berlin, 2011/09, ISBN/ISSN 0948-7263
[DB2016] Deutsche Bahn (Hrsg.) Deutsche Bahn Daten und Fakten 2016, 2017/03/11
[DBAG09j] Deutsche Bahn AG Konzern (Hrsg.) Deutsche Bahn DB Mobility Logistics - Daten & Fakten 2008, 2009
[DBAG13a] o. A. Deutsche Bahn DB Mobility Logistics - Daten & Fakten 2012, Berlin, 2013
[DBAG15c] Deutsche Bahn AG Konzern (Hrsg.) Deutsche Bahn DB Mobility Logistics - Daten & Fakten 2014, Berlin, 2015
[DBAG18c] Deutsche Bahn AG Konzern (Hrsg.) Deutsche Bahn DB Mobility Logistics - Daten & Fakten 2017, Berlin, 2018
[DBAG19b] Deutsche Bahn AG Konzern DB - Daten und Fakten 2018, 2019
[DBAG20i] Deutsche Bahn AG Konzern (Hrsg.) Deutsche Bahn
Daten&Fakten 2020, 2020
[ElBa11] o. A. DB bestellt 27 IC-Doppelstockzüge für den Einsatz im Fernverkehr, veröffentlicht in Elektrische Bahnen, Ausgabe/Auflage 01-02/2011, Oldenbourg Industrieverlag GmbH, München, 2011/01, ISBN/ISSN 0013-5437
[Jaen09] Jänsch, Eberhard, Dr.-Ing. Vor 30 Jahren: IC 79 - jede Stunde - jede Klasse, veröffentlicht in Eisenbahntechnische Rundschau, Ausgabe/Auflage 05/09, DVV Media Group GmbH / Hamburg, 2009/05, ISBN/ISSN 0013-2845
[KCW08] o. A. Die Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn AG nach dem Holdingmodell - Folgenabschätzung für den Fernverkehr, Berlin, 2008/04/07
[Mini11] o. A. ICx - der neue Fernverkehrszug für die Deutsche Bahn, veröffentlicht in Eisenbahn-Revue International, Ausgabe/Auflage 06/2011, Minirex AG / Luzern (Schweiz), 2011/06, ISBN/ISSN 1421-2811
[Mini11a] o. A. Doppelstock-Notlösung beim DB-Fernverkehr, veröffentlicht in Eisenbahn-Revue, Ausgabe/Auflage 02/2011, Minirex AG, Luzern (CH), 2011/02, ISBN/ISSN 1421-2811
[ProB08] o. A. Intercity ohne Chance - Zwei Drittel der Intercity-Züge werden in den nächsten zehn Jahren eingestellt, veröffentlicht in Der Fahrgast, Ausgabe/Auflage 3/2008, Berlin, 2008
[SaOl14] Sauter-Servaes, Thomas, Olma, Steven Nachtzug 2.0 - Neue Chancen durch Hochgeschwindigkeitsangebote, veröffentlicht in Internationales Verkehrswesen, Ausgabe/Auflage 1/2014, DVV Media Group GmbH, Hamburg, 2014/01, ISBN/ISSN 0020-9511
[Wein14] Weinrich, Regina DB-Autoreisezüge vor dem Aus?, veröffentlicht in Eisenbahn-Revue International, Ausgabe/Auflage 4/2014, Minirex AG, Luzern, 2014/04, ISBN/ISSN 1421-2811
Glossar
Personenkilometer
Die Einheit Personenkilometer [Pkm] beschreibt die im Rahmen einer Personenbeförderung erbrachte Verkehrsarbeit. Diese definiert sich als Produkt der Verkehrsmenge (Summe der beförderten Personen) und der von dieser dabei zurückgelegten Wegstrecke in km.
Verkehrsarbeit [Pkm] = Verkehrsmenge [P] * Wegstrecke [km]
Ausbaustrecke Als Ausbaustrecken (ABS) werden im Bereich des spurgebundenen Verkehrs bestehende Netzabschnitte bezeichnet, die mittels umfangreicher Baumaßnahmen für höhere Kapazitäten und / oder Geschwindigkeiten ertüchtigt wurden. Häufig findet der Begriff im Zusammenhang mit für den Einsatz von Neigetechnikfahrzeugen angepassten Strecken Verwendung. Durch eine geeignete bauliche Auslegung des Fahrweges ermöglicht dieses System entsprechend ausgestatteten Triebwagen schnellere Gleisbogendurchfahrten, m. a. W. höhere Kurvengeschwindigkeiten.
Aufgabenträger
Aufgabenträger bestellen bei den Verkehrsunternehmen die im Rahmen der Daseinsvorsorge gewünschten Nahverkehrsleistungen. Dabei gibt es Unterschiede zwischen dem Schienenpersonennahverkehr (SPNV) und dem straßengebundenen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV).
Im SPNV sind seit Bahnreform und ÖPNV-Regionalisierung im Jahr 1995/96 anstelle des Bundes die Länder für die Planung, Organisierung und Finanzierung verantwortlich. In einigen Ländern sind die Aufgabenträger für das gesamte Land zuständig, wie in Bayern, in anderen betreuen sie regional abgegrenzte Gebiete, wie in Nordrhein-Westfalen. Teilweise wird die Aufgabenträgerschaft den Verkehrsverbünden zugewiesen, wie in Hessen.
Die Aufgabenträgerfunktion für den straßengebundenen ÖPNV ist den Landkreisen oder kreisfreien Städten zugeordnet.
Hochgeschwindigkeitsverkehr Als Hochgeschwindigkeitsverkehr (HGV) werden Zugfahrten von Trieb[wagen]zügen (sog. Hochgeschwindigkeitszüge) bzw. dafür geeigneten lokbespannten Zügen mit mehr als 200 km/h Spitzengeschwindigkeit auf extra dafür [um]gebauten HGV-Strecken bezeichnet.
Schienenpersonennahverkehr
Gemäß Regionalisierungsgesetz (RegG) § 2 handelt es sich bei einer auf der Schiene erbrachten Beförderungsdienstleistung um ein Angebot des Nahverkehrs, "wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle [...] die gesamte Reiseweite 50 Kilometer oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nicht übersteigt" [RegG, § 2]. Zur Erfüllung der Daseinsvorsorge wird der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) von den Ländern bestellt und unterstützt. Der SPNV ist eine Sonderform des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Der ÖPNV ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert, der SPNV zusätzlich noch im Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG).
Verkehrsleistung
Die Verkehrsleistung gibt Auskunft über die Inanspruchnahme von Ressourcen. Als Verkehrsleistung wird die auf eine Zeiteinheit t (zum Beispiel ein Jahr) bezogene Verkehrsarbeit definiert und als Quotient dargestellt. Die Verkehrsarbeit wird dabei als Produkt von Verkehrseinheiten (zum Beispiel Güter oder Personen) und der durch diese zurückgelegten Strecke gebildet. In der Verkehrswissenschaft sind die Einheiten Personenkilometer pro Jahr [Pkm/a] oder Tonnenkilometer pro Jahr [tkm/a] gebräuchlich.
Schienenpersonenfernverkehr
Der Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) ist die Beförderung von Reisenden mit Eisenbahnzügen über längere Strecken mit mehr als einer Stunde Fahrzeit oder 50 km Entfernung. Im Gegenzug zum Schienenpersonennahverkehr (SPNV) bzw. dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) wird der SPFV eigenwirtschaftlich betrieben und muss sich betriebsökonomisch selbst tragen.
Eisenbahnverkehrsunternehmen Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) sind öffentliche Einrichtungen oder privatrechtlich organisierte Unternehmen, die Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen. "Eisenbahnverkehrsunternehmen" stellt einen europarechtlichen Begriff dar, welcher durch nationales Recht in Form von § 2 (1) des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) konkretisiert wird.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?400279

Gedruckt am Donnerstag, 28. März 2024 23:13:44