Forschungsinformationssystem des BMVI

zurück Zur Startseite FIS

Rechtliche Rahmenbedingungen für Shared Space

Erstellt am: 16.01.2012 | Stand des Wissens: 13.06.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Der originäre Anspruch des Shared Space-Ansatzes beruht auf der Idee, die Interaktion zwischen den Verkehrsteilnehmenden - insbesondere zwischen dem Kraftfahrzeugverkehr und den nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmenden - weitestgehend ohne Verkehrsregelung umzusetzen. Gegenwärtig ist aus straßenverkehrsrechtlicher Sicht eine solche "regelfreie" Umsetzung in der Bundesrepublik Deutschland jedoch nicht möglich [FGSV14].
Zwar ist der Gedanke vom Abbau überregulierter Straßenräume auch in der Straßenverkehrs-Ordnung [StVO] (StVO) verankert, jedoch ist die ausschließliche Regulierung des Verkehrsgeschehens mittels sozialer Normen - ein Verkehrsraum ohne rechtliche Regelung - nicht möglich. Die "Hinweise zu Straßenräumen mit besonderem Überquerungsbedarf Anwendungsmöglichkeiten des "Shared Space"-Gedankens" betonen jedoch, "dass im deutschen Entwurfsregelwerk für Stadtstraßen schon seit den 1980er-Jahren die Notwendigkeit erkannt wurde, in Straßenräumen mit besonderem Überquerungsbedarf für alle Verkehrsteilnehmer individuelle Lösungen zu ermöglichen"[FGSV14, S.6]. Die Richtlinien für derartige Planungen entsprechen nur nicht den orignären Ansprüchen des Shared-Space Ansatzes.
Laut StVO heißt es bezüglich der Anordnung von Verkehrszeichen und -einrichtungen, dass "[...] örtliche Anordnungen durch Verkehrszeichen nur dort getroffen [werden], wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist" [StVO §39 Absatz 1, §43 Absatz 1 Satz 2]. Zudem ist "[...] bei der Anordnung von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen restriktiv zu verfahren und stets [...] zu prüfen, ob die vorgesehene Regelung [...] zwingend erforderlich ist" [GER10a]. "Verkehrszeichen dürfen [somit] nur dort angebracht werden, wo dies nach den Umständen geboten ist" [VwV-StVO zu den §§39 bis 43 Absatz 1 Satz 3]. Die StVO gilt stets als rechtliche Ordnung zur Regelung und Lenkung des öffentlichen Verkehrs [VwV-StVO zu §1]. Die Verhaltensregeln der StVO haben auch ohne beziehungsweise bei weitgehendem Verzicht auf Verkehrseinrichtungen (zum Beispiel Verkehrszeichen) rechtlich gültigen und bindenden Charakter. Sie gelten folgerichtig auch in Shared Space-Bereichen [BeBü10]. Entsprechend werden durch die Nichtbeschilderung eines öffentlichen Verkehrsraumes die folgenden Grundregeln nicht berührt:
  • Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme,
  • Rechtsfahrgebot,
  • Gebot der Rechts-vor-Links-Regelung und
  • Gebot der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 Kilometer pro Stunde unter Beachtung einer Anpassung (Herabsenkung) bei entsprechender Notwendigkeit.
Anders als in den Niederlanden oder der Schweiz, in denen straßenverkehrsrechtliche Rahmen für "Shared Space" oder "Begegnungszonen" vorhanden sind, sind in Deutschland der Umsetzung von Shared Space-Bereichen Grenzen gesetzt. Unter den gegenwärtigen straßenverkehrlichen Rechtsgrundlagen können in Straßenräumen mit hohem Aufenthalts- und Querungsbedarf öffentliche Räume entsprechend der Shared Space-Idee realisiert werden indem zonale straßenverkehrsrechtliche Anordnungen geschaffen werden. Bei der straßenverkehrsrechtlichen Ausgestaltung von Bereichen nach dem Shared Space-Prinzip können Varianten des verkehrsberuhigten Geschäftsbereiches (Zeichen 274 der StVO mit Maximalgeschwindigkeit zwischen 10 und 20 Kilometer pro Stunde) sowie des verkehrsberuhigten Bereiches (Zeichen 325 der StVO) in Frage kommen [Or11; ADAC09b].
So eignet sich der verkehrsberuhigte Bereich zur Umsetzung in Straßenräumen, in denen der Fußgängerverkehr eine deutlich dominante Stellung gegenüber dem Kraftfahrzeugverkehr und dem Durchgangsverkehr einnimmt. Die Aufenthaltsfunktion wird zusätzlich durch den rechtlich gesicherten Vorrang der Fußgänger gestärkt [GER10a]. Der gewünschte "Gaststatus" des Kraftfahrzeugverkehrs lässt sich straßenverkehrsrechtlich aktuell nur mit dieser zonalen Gestaltungvariante korrekt realisieren. Eine zusätzliche Beschilderung im Ein- beziehungsweise Ausgangsbereich mittels eines zonalen Parkverbots ist dabei nicht erforderlich.
In Shared Space-Bereichen mit straßenverkehrsrechtlicher Ausweisung als verkehrsberuhigter Geschäftsbereich besitzt der Fußgängerverkehr keinen Vorrang. Folglich eignet sich diese zonale Gestaltungsvariante für Straßenräume, in denen der nicht-motorisierte Verkehr in Relation zum Kraftfahrzeugverkehr und Durchgangsverkehr keine spürbar dominante Stellung einnimmt [GER10a].
Eine Wahl sollte nach den Faktoren:
  • Kraftfahrzeugbelastung,
  • Durchgangsverkehrsaufkommen und
  • Fußgängerverkehrsaufkommen
getroffen werden [GER10a]. Weitere Straßenverkehrrsechtliche Maßnahmen die zu einer Verkehrberuhigung beitragen können sind:
  • (Zonen-) Geschwindigkeitsbegrenzungen,
  • Vorfahrtsregelungen,
  • Zufahrtsbeschränkungen,
  • Fußgängerzonen,
  • Verkehrsberuhigte (Geschäfts-) Bereiche,
  • Radwege, Fahrrad- und Öffentliche Personennahverkehrs (ÖPNV)-Straßen sowie
  • Umweltzonen.
Diese Maßnahmen sind im Gegensatz zum shared space Ansatz rechtlich in der [StVO] verankert. 
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Straßenräume mit hohem Aufenthalts- und Querungsbedarf (Stand des Wissens: 13.06.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?375535
Literatur
[ADAC09b] Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e.V., Shared Space - Mehr Sicherheit durch weniger Regeln im Verkehr?, München, 2009
[BeBü10] Becker, Hans-Joachim, Bühn, Maximilian, Döge, Norman Shared Space: Revolution auf Kosten der Schwachen?, veröffentlicht in Shared Space. Beispiele und Argumente für lebendige öffentliche Räume, Bielefeld, 2010, ISBN/ISSN 978-3-9803641-7-1
[FGSV14] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. , Baier, Reinhold, Eilrich, Wolfgang, Gerlach, Jürgen, et al. Hinweise zu Straßenräumen mit besonderem Querungsbedarf - Anwendungsmöglichkeiten des "Shared Space"-Gedankens, veröffentlicht in Wissensdokumente (W 1), Ausgabe/Auflage FGSV 200/1, FGSV Verlag / Köln, 2014/06, ISBN/ISSN 978-3-86446-081-4
[GER10a] Gerlach, J. Shared Space aus verkehrsplanerischer Sicht. Definitionen, Erfahrungen und Empfehlungen vor dem Hintergrund der Straßenverkehrsordnung und dem planerischen Regelwerk in Deutschland, veröffentlicht in Shared Space. Beispiele und Argumente für lebendige öffentliche Räume., Bielefeld, 2010, ISBN/ISSN 978-3-9803641-7-1
[Or11] Ortlepp, Jörg, Erfahrungen mit "Shared Space" und "Gemeinschaftsstraßen" in Deutschland, Berlin, 2011/10/06
Weiterführende Literatur
[BSV14] BSV Büro für Stadt- und Verkehrsplanung Dr.-Ing. Reinhold Baier GmbH, Baier, R.,, Engelen, K.,, Klemps-Kohnen, A.,, Reinartz, A. Einsatzbereich und Einsatzgrenzen von Straßenumgestaltungen nach dem "Shared Space"-Gedanken, 2014/08
[StVO] Straßenverkehrs-Ordnung (StVO)
[VwV-StVO] Verwaltungsvorschrift zur StVO
Glossar
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
StVO Die Straßenverkehrsordnung  legt Regeln für sämtliche Straßenverkehrsteilnehmer fest und bildet somit eine Rechtsverordnung der Bundesrepublik Deutschland.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?375490

Gedruckt am Freitag, 29. März 2024 11:03:09