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Fahrzeugrevolution im Schienenpersonenverkehr: Vom Triebkopf- zum Triebwagenzugkonzept

Erstellt am: 22.02.2011 | Stand des Wissens: 29.02.2024
Ansprechpartner
IKEM - Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V.
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch

Besonders in topographisch starkt bewegten Gebieten sind die Infrastrukturkosten des Eisenbahn-Fahrwegs bedeutend höher als die des Straßenbaus. Bahnstrecken können nur mit verhältnismäßig geringen Steigungen trassiert werden, was den Bau teurer Kunstbauten wie Tunnel, Brücken etc. notwendig macht. Dies ist nur zum Teil auf die geringen Reibungskräfte des Rad-Schiene-Systems zurückzuführen. Ein weiterer Faktor ist das traditionelle Zugprinzip mit einer antreibenden Lok und antriebslosen Wagen.
Zurückführen lässt sich dieses historische Prinzip auf den Einsatz von Dampfmaschinen, deren Wirkungsgrad sich mit zunehmender Größe erhöhte. Das machte den Betrieb einer einzelnen Dampflokomotive rentabler als die Verteilung des Antriebs auf mehrere kleine Dampfmaschinen im Zugverband. Bei den inzwischen eingesetzten Diesel- und Elektromotoren hat sich der Effekt jedoch umgekehrt: Für einen leistungsfähigen Dieselantrieb eignen sich in Serie geschaltete kleinere Einzelmotoren [Vier98].
Inzwischen ist im Personenverkehr ein Übergang zum Triebwagenzugkonzept zu beobachten. Im Gegensatz zu Triebkopfzügen (wie beispielsweise dem ICE der ersten und zweiten Generation sowie dem TGV), bei denen die Antriebsleistung ausschließlich über angetriebene Achsen des Triebkopfs erfolgt, werden bei Triebzügen die Traktionsaggregate auf die gesamte Zuglänge verteilt (Abbildung 1). Umsetzungsbeispiele dieses modernen Antriebskonzepts sind die Hochgeschwindigkeitszüge ICE 3 und 4, der spanische Velaro oder der französische AGV [Brigi06, HGV14]. Auch das gegenwärtig seitens des DLR (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V.) entwickelte Konzeptfahrzeug "Next Generation Train" (NGT) sowie das von der Siemens AG (Bereich Transportation Systems) für den Deutsche Bahn AG Konzern entwickelte Powercar-Konzept der ICx-Projektplattform verfügen beide über eine entsprechende Auslegung [Wint12; BuGu13].
 Schematische Darstellung des Velaro E AntriebsAbb. 1: Schematische Darstellung des Velaro E Antriebs [SIEM12] (Grafik zum Vergrößern bitte anklicken)
In der Literatur wird hinsichtlich des neuen Triebwagenzugkonzepts ein breites Spektrum an Vorteilen, aber auch Nachteile benannt:
Vorteile
  • Nutzung des beinahe gesamten Überflurbereichs als Fahrgastraum, d. h. zusätzlich Einnahmen bei gleicher Länge oder Reduktion von Bahnsteiglängen und Fußwegen für die Reisenden. Im Falle des 200 m langen ICE 3 mit Mehrsystemausrüstung ergibt sich ein Nutzflächenzuwachs von circa 20 Prozent gegenüber einer Triebkopflösung. Ähnliche Werte gibt der Hersteller Alstom Transport für den AGV an [Brigi06, S. 16].
  • Mehrere über die gesamte Zuglänge verteilte Antriebsachsen verbessern die Haftwertausnutzung und führen sowohl zu einem erhöhten Beschleunigungsvermögen als auch zu der Fähigkeit, stärkere Streckensteigungen zu überwinden.
  • Insgesamt steht mehr Raum für die Installation von Antriebstechnik zur Verfügung, wodurch der Triebzug mit höherer Traktionsleistung ausgerüstet werden kann.
  • Höhere Zugkraft und Traktionsleistung haben zur Folge, dass auch eine stärkere Bremskraft zur Verfügung gestellt werden kann.
  • Der Unterflurantrieb bietet die Möglichkeit einer gleichmäßigeren Gewichtsverteilung der Antriebsausrüstung [Alth01; HGV14].
Nachteile
  • Der führende Wagen eines Zugverbandes ist am stärksten etwaigen Seitenwindeinflüssen ausgesetzt. Im Falle schwerer Triebköpfe mit konstanter Masse (ICE 1, TGV PSE) ergaben sich daraus keine Sicherheitsprobleme. Züge mit verteilter Traktion offenbaren jedoch insbesondere bei schwacher Besetzung des Frontwagens eine vergleichsweise hohe Seitenwindempfindlichkeit [LaPa01; Loos07a]. Das gleiche Problem tritt allerdings auch beim Triebkopfzug ICE 2 auf, wenn der leichte (antriebslose) Steuerwagen den Zug anführt [DeMa01].
  • Speziell für hochmotorisierte Triebzüge trassierte Strecken wiesen früher als erwartet Schienenfehler auf, welche vermutlich aufgrund der starken Beanspruchung verteilter Traktionssysteme entstanden. Dies wurde beispielsweise auf der Neubaustrecke Köln - Frankfurt sichtbar. Für eine verlängerte Schienenliegezeit und die Sicherstellung einer optimalen Fahrwegqualität, welche sich unter anderem auf Lärmemissionen und Fahrkomfort auswirkt, ist daher eine geeignete Schienenschleifstrategie notwendig [Schö07a].
  • Die Verstärkung bzw. -kürzung von Triebzügen ist (aus fahrzeugtechnischer Sicht) im Vergleich zu lokbespannten Zugverbänden komplexer. Während bei konventionellen Zügen lediglich einzelne Wagen umzusetzen sind, können beim Triebwagenzugkonzept auf Grund der mitgeführten Antriebstechnik ausschließlich komplette Zugverbände gekoppelt werden. Das vollständige Durchlaufen des Zuges ist zudem ebenfalls nicht möglich [Müll00b].

Der Union Internationale des Chemins de fer (UIC, Internationaler Eisenbahnverband) stuft das Triebwagenzugkonzept im Hinblick auf Energieeffizienzsteigerung als äußerst vielversprechend ein. Fahrzeugbezogen wird ein Einsparpotenzial von 5 bis 10 Prozent attestiert. In erster Linie resultiert die hiermit verbundene ökologische Vorteilhaftigkeit aus einem höheren Bremsenergierückgewinnungsgrad (im Vergleich zu lokbespannten Zügen beziehungsweise Triebkopfzügen), da sämtliche angetriebene Achsen zwecks Rekuperation als Generator fungieren können. Darüber hinaus schafft die unterflurige Anordnung von Antriebseinheiten Raum für zusätzliche Sitzplatzkapazitäten, sodass der verkehrsleistungsspezifische Energieverbrauch bei hohen Auslastungsgraden gesenkt werden kann. Konstruktionsbedingt ermöglichen Triebwagenzüge ferner Gewichtsreduzierungen im Umfang von bis zu 10 Prozent gegenüber herkömmlichen Fahrzeugverbänden, wodurch sich energiezehrende Beschleunigungswiderstände minimieren lassen [UIC02f].
Ansprechpartner
IKEM - Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V.
Literatur
[Alth01] Althammer, Karlheinz, Prof. Dr.-Ing. Aufgaben und Ziele in Forschung und Entwicklung bei der Deutschen Bahn AG, veröffentlicht in Der Eisenbahningenieur, Ausgabe/Auflage 3, Tetzlaff Verlag, 2001
[Brigi06] Briginshaw, David Into the future: From TGV to AGV, veröffentlicht in International Railway Journal, Ausgabe/Auflage 11, 2006/11, ISBN/ISSN 0744-5326
[BuGu13] Busemann, Andreas, Gubisch, Christian Neuer ICx bietet Innovationen in Technik und Design, veröffentlicht in Deine Bahn, Ausgabe/Auflage 09/2013, Bahn Fachverlag GmbH / Berlin, 2013/09, ISBN/ISSN 0948-7263
[DeMa01] Deeg, Peter, Matschke, Gerd, Schulte-Werning, Burkhard, Dr.-Ing. Effects of Strong Cross Winds on High-Speed Trains: A methodology for risk assessment and development of countermeasures, veröffentlicht in WCRR 2001 Tagungs-CD-ROM, München, 2001
[HGV14] o.A. ICE 3 der Baureihe 407 (Velaro D) von Siemens, 2014
[LaPa01] Lacote, Francois, Palais, Georges AGV becomes a reality, veröffentlicht in Railway Gazette International, Red Business Information, Quadrant House, Sutton, SM2 5AS, Great Britain, 2001/11, ISBN/ISSN 0373-5346
[Loos07a] Loose, Sigfried Ohne viel Wirbel - Der Zug der Zukunft ist leicht und schnell, vor allem aber sicher, veröffentlicht in DLR Nachrichten, Ausgabe/Auflage 118/2007, 2007/11
[Müll00b] Müller, Volker Lokbespannung oder Triebzüge?, veröffentlicht in Eisenbahntechnische Rundschau - ETR, Ausgabe/Auflage 10/2000, DVV Media Group GmbH , 2000, ISBN/ISSN 0013-2845
[Schö07a] Schöch, Wolfgang Grinding of rails on high-speed railway lines: a matter of great importance, veröffentlicht in Rail Engineering International, Ausgabe/Auflage 1, De Rooi Publications, 2007, ISBN/ISSN 0141-4615
[SIEM12] AVE Serie 103 (Velaro-E) Hochgeschwindigkeitszug in Spanien, 2012/01
[UIC02f] o. A. Multiple units (MUs) vs. loco-hauled trains, 2002/10/09
[Vier98] Vieregg, Martin, Dr. Dipl.-Kfm. ICE und Transrapid im sich wandelnden Verkehrsmarkt - Hat Schienenpersonenfernverkehr noch eine Zukunft?, veröffentlicht in Zeitschrift für Verkehrswissenschaften, Ausgabe/Auflage 3, Verkehrs-Verlag J. Fischer, Düsseldorf, 1998
[Wint12] Winter, Joachim Next Generation Train, veröffentlicht in EI - Der Eisenbahningenieur, Ausgabe/Auflage 04/2012, DVV Media Group GmbH, Hamburg, 2012/04, ISBN/ISSN 0013-2810
Glossar
Neubaustrecke Als Neubaustrecken bezeichnet man gänzlich neu errichtete Verkehrswege, die einem bestehenden Netz hinzugefügt werden. Im Eisenbahnwesen findet der Begriff zumeist auf für den Hochgeschwindigkeitsverkehr gebaute Strecken Anwendung, wobei diese entweder exklusiv durch Personenbeförderungsangebote oder gemeinsam mit dem Güterverkehr genutzt werden. Das konstruktive Anforderungsniveau von Neubaustrecken reicht dabei gemeinhin über die für Ausbaustrecken (ABS) geltende Anforderungen hinaus.
Traktion Unter Traktion versteht man im Schienenverkehrsbereich die kraftgetriebene Fortbewegung von Triebfahrzeugen. Bei der Art des Antriebssystems unterscheidet man heutzutage i. d. R. Triebfahrzeuge mit dieselelektrischen oder -hydraulischen bzw. rein elektrischen Aggregaten zur Kraftübertragung (auch: Diesel- bzw. Elektrotraktion).  Die Traktionsart Dampf wird hierzulande nur noch im Bereich von Museumsbahnen eingesetzt. Mehrere gekoppelte Triebfahrzeuge bilden eine sog. Mehrfachtraktion. Üblicherweise werden diese nach der Anzahl der eingesetzten Triebfahrzeuge benannt (z. B. Doppel- oder Dreifachtraktion).
Train à grande vitesse Train à grande vitesse (TGV, dt. Zug mit hoher Geschwindigkeit, Hochgeschwindigkeitszug), ist sowohl Markenname als auch Bezeichnung mehrerer Baureihen französischer Hochgeschwindigkeitszüge. Die TGV sowie deren Geschwisterzüge Thalys und Eurostar verkehren außer in Frankreich auch in bzw. nach Deutschland, in der Schweiz, in Italien, Belgien, den Niederlanden, Großbritannien, Luxemburg und Spanien.
Wirkungsgrad
Der Wirkungsgrad gibt an, welcher Anteil der zugeführten Energie bei einer Umwandlung in die gewünschte Energieform umgewandelt wird, und beschreibt damit die Effizienz beispielsweise einer technischen Anlage.
Triebfahrzeug
Ein Triebfahrzeug (Tfz) ist ein einzelnes Regeleisenbahnfahrzeug mit einem eigenen Fahrzeugantrieb (Lokomotiven, Triebwagen). Eine Sonderform bilden Triebköpfe, die in einem fest gekoppelten Triebzug zusammen mit antriebslosen Mittel- und Steuerwagen betrieben werden. Lokomotiven kommen normalerweise im Verbund mit gekoppelten Reisezug- oder Güterwagen zum Einsatz. Triebwagen sowie auch Triebzüge werden als gekoppelten Einheiten gleichen Typs in sogenannten Triebwagenzügen eingesetzt. Weitere Tfz sind Kleinlokomotive und selbstfahrende Nebenfahrzeuge.
Rekuperation
Rekuperation bezeichnet die Rückführung eines Anteils der von einem elektrisch angebtriebenen Fahrzeug entnommenen Traktionsenergie in die Fahrzeugbatterie oder das Bahnstromnetz. Diese Energie wird beim Bremsvorgang durch den Betrieb des Elektromotors im Generatorbetrieb bzw. durch die elektrodynamische Nutzbremse generiert.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?342753

Gedruckt am Samstag, 20. April 2024 00:26:36