Fahrzeugtechnische Entwicklungen im Gefahrguttransport auf der Schiene
Erstellt am: 23.06.2010 | Stand des Wissens: 23.02.2017
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IKEM - Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V.
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Ausgehend von einigen schweren Unfällen im Gefahrguttransport Ende der 1990er Jahre, deren Ursachen auf Entgleisung oder Kollision zurückzuführen waren, sah sich das damalige Bundesverkehrsministerium, BMVBS (heute BMVI), dazu veranlasst, Untersuchungen zur Verbesserung der Betriebssicherheit einzuleiten. Die vor diesem Hintergrund gebildete Arbeitsgruppe "Tank- und Fahrzeugtechnik" ermittelte basierend auf Überlegungen zur Umsetzbarkeit bei Alt- und Neuwagen sowie unter Berücksichtigung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses eine 28 Einzelmaßnahmen umfassende Prioritätenliste, welche folgende Schwerpunktbereiche umfasst:
- Dom/Domdeckel (Mindestprüfdruck 4,0 bar)
- Füll- und Entleereinrichtungen
- automatisches Überwachungssystem zur Bremsluftkontrolle
- Charakteristik und Form von Puffer/Pufferteller
- äußere Gestaltung des Tanks, insbesondere die Anbauten
- Crash-Elemente
- Schutzabstand (Tankboden-Pufferbohle)
- Sicherheitsniveau des Tanks
Ein Umsetzungsbeispiel der oben genannten Empfehlungen stellt der sog. Crash Protected Rail Tank Car (CPR) dar. Der von der Waggonbau Brüninghaus GmbH bzw. Tatravagónka a. s. gefertigte Kesselwagen verfügt über ein besonders stabiles Chassis sowie Keystone-Spezialpuffer, deren Arbeitsaufnahmevermögen im Kollisionsfall signifikant höher liegt als bei herkömmlichen Puffern. Weiterhin ist dieses Fahrzeug mit als Headshields (Abbildung 1) bezeichneten stählernen Verstärkungen an den Tank-Stirnseiten ausgerüstet, die eine von aufkletternden Waggons ausgelöste Durchlöcherung verhindern sollen [Kell03, S. 12]. Zu entsprechenden theoretischen Vorüberlegungen sei in diesem Zusammenhang ebenfalls auf das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Forschungsprogramm "Entwicklung und Bau eines Chemiekesselwagens für erhöhte Sicherheitsanforderungen (CeSa)" verwiesen [Müll00a, S. 36].

Abb. 1: Kesselwagen mit Headshield
Mit dem safe tank car® der WASCOSA AG erfolgte eine Weiterentwicklung bestehender Standards. So wurde von der EST Eisenbahnsystemtechnik GmbH und der Makross PartG ein Aufkletterschutzmodul gemäß Sondervorschrift TE25 entwickelt, das über den Crash-Pufferelementen angebracht ist (Abbildung 2). Durch gegenseitige Verzahnung lässt sich ein Aufklettern bereits im Frühstadium abwenden. Um einen effektiven Schutz sensibler Bereiche um den sog. Chemie-Dom (oben mittig auf dem Tankwagen in einer Einheit untergebrachte Be-/Entfüllungsventile) im Falle eines Überschlages zu gewährleisten, wurde ferner ein hochfester Stahlrahmen-Überrollbügel konstruiert, der entstehende Druckkräfte schonend auf die Tankwandung verteilt. Der verschraubte Anbau ermöglicht zudem einen flexiblen Austausch. [MaSc11, S. 21 ff.; Krat10, S. 27; MaSc13, S. 51 ff.; 443906, S. 44 ff.]

Abb. 2: "Safe tank car" mit Aufkletterschutzmodul und Überrollbügel [Krat10, S. 26]
Mittlerweile sind die beschriebenen Crash-Puffer für Neubau-Chlor- sowie LPG-Kesselwagen gesetzlich vorgeschrieben [RID, 6.8, S. 28]. Nach einer Übergangsfrist mussten seit 2011 auch Teile vorhandener Wagenflotten nachgerüstet werden [Krat07, S. 44].
Gegenwärtig wird außerdem die Möglichkeit zu einer verpflichtenden Einführung fahrzeugseitiger Entgleisungsdetektoren im Gefahrguttransport in Erwägung gezogen. Diese Systeme sind bei der Detektion einer Entgleisung in der Lage, die Hauptluftleitung des Zuges zu öffnen und damit eine sofortige Notbremsung einzuleiten. Sie funktionieren rein pneumatisch, d. h. unabhängig von elektrischer Energieversorgung [Bing14, S. 2 ff.]. Der RID-Ausschuss bei der OTIF (Organisation intergouvernementale pour les transports internationaux ferroviaires, dt. Zwischenstaatliche Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr) empfahl, eine entsprechende Regelung für sämtliche im Einsatz befindliche Kesselwagen umzusetzen, wohingegen ein daraufhin beschlossener Verhandlungskompromiss mit Wagenhaltern und Verkehrsunternehmen diese Maßnahmen letztendlich nur noch für neue Wagen und besonders gefährliche Stoffe ab 2011 vorsah. Von der European Railway Agency (ERA) wurde die entsprechende Vorgabe in der RID jedoch mit Blick auf die damit verbundenen Investitionskosten (ca. 1.000 EUR je Wagen) und bestehende Zweifel an der Wirksamkeit als nicht erforderlich eingestuft. Eine letzte Entscheidung zu dieser Frage steht noch aus. [RoPe09; OTIF12a, S. 2 ff.; OTIF14a]
Neben den beschriebenen, auf eine Erhöhung der passiven Sicherheit abzielenden Maßnahmen können insbesondere Telematik-Systeme zur Vermeidung von Gefahrguttransportunfällen im Schienenverkehr beitragen. Vor dem Hintergrund, dass es bei konventionellen Wagen - anders als beim Lkw-Transport - nicht ohne weiteres möglich ist, den ordnungsgemäßen Zustand des Ladegutes sowie der Transportbehälter kontinuierlich durch das Fahrpersonal zu überwachen (Entdeckung gefährlicher Ladungsveränderungen), bieten entsprechende Sensor- und Telekommunikationslösungen ein geeignetes Mittel zur Schließung derartiger sicherheitskritischen Informationslücken (Abbildung 3). Konkret lassen sich im Bereich der Produktsicherheit insbesondere folgende Parameter automatisch überwachen:
- Produkttemperatur
- Tank-Innendruck
- Ladungsverschiebung [HeJa99a, S. 842]
- Öffnung von Laderaumzugängen
- Leckagen
- Überladung

Abb. 3: Absicherung von Kesselwagen mittels Sensorik [Behr06a, S. 39]
Neben der Überwachung des Ladeguts kommt einer durchgängigen Laufwerkskontrolle eine hohe Bedeutung zu. Im alltäglichen Betrieb ist nur eine eingeschränkte Sichtprüfung der Schienengüterfahrzeuge möglich. Telematik-Systeme bieten die Möglichkeit, einerseits sich abzeichnende Verschleißerscheinungen aufzudecken und andererseits bei akutem Versagen den Triebfahrzeugführer bzw. zentrale Stellen zu alarmieren. Bei der allgemeinen Fahrwerksüberwachung stehen folgende Diagnosesysteme im Vordergrund: