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Konzepte und Entwicklungen für die Verkehrsberuhigung im Stadtverkehr

Erstellt am: 27.04.2004 | Stand des Wissens: 13.09.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Aufgrund der Zunahme des innerstädtischen Verkehrsaufkommens und den damit einhergehenden Problemen, wie der Schadstoff- und Lärmbelastung, der Trennwirkung und der Benachteiligung der nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmenden, entstand bereits in den 1970er Jahren der Wunsch nach einer Verkehrsberuhigung. Zunächst beschränkte sich diese auf punktuelle Einzelmaßnahmen in Wohngebieten. Der flächenhafte Ansatz wurde erst Anfang der 80er Jahre im Zuge des Modellvorhabens Flächenhafte Verkehrsberuhigung in sechs deutschen Städten aufgegriffen und fortan weiterentwickelt [Blank93].
Als Vorbild der Konzeption einer Verkehrsberuhigung diente das Anfang der 1970er Jahre entwickelte sogenannte Delfter Modell. Im Rahmen dieses Projektes sollte der Straßenraum wieder als ein vielfältiger Lebensraum nutzbar gemacht werden, wodurch das Auto in diesen Bereichen seine Vorrangstellung verlor und sich in ein umfassendes Verkehrs- und Nutzungskonzept einzuordnen hatte [UBAo.J.].
In dieser Zeit wurde auch in der Bundesrepublik Deutschland zunehmend die Forderung nach einer Begrenzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in Wohngebieten geäußert, da die Zahl der Unfälle mit Personenschaden hier einen hohen Stand erreicht hatte. Die Ölkrise der Jahre 1973 und 1974 und die dadurch bedingten Rückgänge der Unfall- und Verunglücktenzahlen ließen derartige Forderungen allerdings zunächst wieder in den Hintergrund treten. Erst ab Mitte der 70er Jahre gewann die Verkehrsberuhigung in der kommunalen Planungspraxis einen höheren Stellenwert [Blank93].
Initiiert durch Bürgerinitiativen und -proteste beschränkten sich Verkehrsberuhigungsmaßnahmen anfangs auf die Entschärfung von gefährlichen und zum Teil fehlgeplanten Situationen, wobei derartige Maßnahmen auf einzelnen Straßen in Wohngebieten fokussiert waren. Weiterhin lag der Schwerpunkt auf punktuellen, stark verkehrstechnisch geprägten Einzelmaßnahmen. Als Folge dessen kam es teilweise zu Verdrängungs- und Verlagerungseffekten, wodurch Nachbarstraßen ein steigendes Verkehrsaufkommen verzeichneten. Daneben wurde in den Anfängen der Verkehrsberuhigung oft eine mangelnde gestalterische Integration der Maßnahmen in das Ortsbild kritisiert [Blank93].
Im Rahmen des Großversuches Verkehrsberuhigung des Landes Nordrhein-Westfalen in den Jahren 1975 bis 1979 erfolgte erstmals eine Anwendung von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen in abgegrenzten Wohngebieten. Dabei konnten neben der Geschwindigkeitsreduzierung unter anderem erste Erfahrungen bezüglich der positiven Wirkung von Verkehrsberuhigungselementen hinsichtlich Wohnumfeldverbesserung, Lärm- und Abgasemission sowie der Verkehrssicherheit gesammelt werden [Blank93; BMV92]. Die wohlgemeinten Einzelmaßnahmen führten aber auch zu unerwünschten Verkehrsverlagerungen.
Da zur Übertragbarkeit auf unterschiedliche städtebauliche Situationen entsprechende fundierte Erfahrungen fehlten, wurde im Jahr 1980 von drei Bundesanstalten das wissenschaftlich begleitete Modellvorhaben Flächenhafte Verkehrsberuhigung in sechs deutschen Städten gestartet [Blank93; BMV92, S. 8].
Wesentliche Voraussetzung für den Erfolg dieses Projektes war der darin verfolgte interdisziplinäre Ansatz, der die Integration der Aspekte des Städtebaus, des Verkehrs und der Umwelt in einem Planungskonzept beinhaltete [UBAo.J.]. Als Voraussetzung für die flächenhafte Verkehrsberuhigung wurde vor allem auch die Bündelung des Verkehrs mit Verbindungsfunktion auf einem leistungsgerechten Straßennetz erkannt.
Dieser konzeptionelle und integrative Ansatz ist auch heute eine wesentliche Grundlage für den Erfolg kommunaler Verkehrsplanungen. Inzwischen erfolgte mit zunehmender politischer Durchsetzung des Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung die Vertiefung und Erweiterung des flächenhaften Ansatzes.
Die aus Forschungsprojekten der 1980er und 1990er Jahre resultierenden Ergebnisse unterschiedlicher Begleit- und Wirkungsforschungen sowie die Dokumentationen realisierter Maßnahmen wurden von vielen Städten und Gemeinden sehr positiv aufgenommen. Viele entsprechende Maßnahmen wurden in verschiedenen Städten umgesetzt. Aus übergreifenden Ergebnisinterpretationen der Modellvorhaben konnten schließlich für wesentliche Zielfelder der flächenhaften Verkehrsberuhigung übertragbare Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Auf der Basis dieser Ergebnisse sowie aufgrund von Erfahrungen aus anderen verkehrsberuhigten Wohnbereichen zielte die weitere Entwicklung schließlich in Richtung gesamtstädtischer Verkehrsberuhigungskonzepte, die mittlerweile selbstverständlicher Gegenstand der Verkehrsentwicklungsplanungen geworden sind [Blank93].
Wesentlicher Nachteil der anfangs propagierten baulichen Maßnahmen zur flächenhaften Verkehrsberuhigung war deren erheblicher Finanzbedarf. Da dafür die öffentlichen Mittel zu knapp waren, wurde die Entwicklung von weniger aufwändigen Konzepten erforderlich. Hieraus resultierte der Modellversuch zu Tempo-30-Zonen und die Einführung der Zonengeschwindigkeitsbeschränkung in den 80er Jahren.
Die flächendeckende Einrichtung von Zonengeschwindigkeitsbeschränkungen abseits von Hauptverkehrsstraßen auf 30 km/h konnte aufgrund der Verordnung über die versuchsweise Einführung einer Zonengeschwindigkeitsbeschränkung (Zonengeschwindigkeitsverordnung) ab 1985 umgesetzt werden. Daraufhin wurden in zahlreichen deutschen Städten und Gemeinden Tempo-30-Zonen eingerichtet. Hierdurch sollten insbesondere den überhöhten Geschwindigkeiten von Kraftfahrzeugen und den daraus resultierenden negativen Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit entgegengewirkt werden.
Durch die 10. Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrsordnung (StVO) wurde die zunächst nur versuchsweise Einführung von Tempo-30-Zonen unbefristet in die [StVO] übernommen. Seit dem 01.01.1990 ist die Zonengeschwindigkeitsverordnung in Kraft getreten, wonach der Beginn und das Ende einer Geschwindigkeitszone in Form einer Beschilderung ausgewiesen werden können. Bereits während der versuchsweisen Einführung der Zonengeschwindigkeitsverordnung von 1985 bis 1989 bedienten sich fast alle Städte und Gemeinden dieser Möglichkeit der Verbesserung ihrer Verkehrsverhältnisse [Welge96].
Zum Zweck der erleichterten Umsetzung von Tempo-30-Zonen in den Städten und Gemeinden wurde die Straßenverkehrsordnung im Jahr 2001 erneut novelliert. Hauptmerkmal der Neufassung ist der Verzicht auf die Formulierung einer Maximalgröße von Zonen. Ferner sind bauliche Maßnahmen nicht mehr zwingend erforderlich. Mittlerweile wird auch diese Neufassung von vielen Entscheidungstragenden kritisiert, da Kommunen weiterhin einer Begründungspflicht unterliegen, wenn sie Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen einführen wollen. Eine flächendeckende Einführung von Tempo 30 auch auf Hauptverkehrsstraßen in Innenstädten wird von fachlicher Seite bereits seit langer Zeit empfohlen [UBA16j]. Der Verband "Lebenswerte Städte, dem mittlerweile mehr als 800 Städte und Kommunen angehören (vgl. lebenswerte-staedte.de) setzt sich unter anderem für eine neue Formulierung dieser Regelung in der RaST ein.
In den 1980er Jahren reagierte die Verkehrsberuhigung auf den verkehrstechnischen Funktionalismus und die autogerechte Stadt. Es erfolgte eine (partielle) Rückbesinnung auf die vielfältigen Nutzungen und Funktionen von Stadtstraßen für Aufenthalt, Erschließung und Verkehr [TOPP11, S. 314]. Seit Anfang der 2000er Jahre jedoch entwickelten sich neue Ansätze, die zwar an die Ideen der Verkehrsberuhigung anknüpfen, allerdings nicht mehr den restriktiven Regeln folgen. Dazu gehören beispielsweise die Gestaltungsphilosophie Shared Space und die Begegnungszonen, welche beide durch Reduzierung von Regulierungen die verschiedenen Verkehrsteilnehmenden dazu bringen möchte, dass sie informell miteinander zu kommunizieren. Beschränkte sich die Verkehrsberuhigung der 1980er und 1990er Jahre vorwiegend auf Straßen mit geringerer verkehrlicher Bedeutung (bis zu 3.000 oder 4.000 Kfz pro Tag), übertragen Shared Space und Begegnungszonen eine gemeinschaftliche Nutzung des Straßenraumes auch auf höher belastete Straßen mit etwa 12.000 bis 15.000 Kfz pro Tag [TOPP11, S. 314 f.].
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Verkehrsberuhigung im Stadtverkehr (Stand des Wissens: 13.09.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?358449
Literatur
[Blank93] Blanke, Harald Geschwindigkeitsverhalten und Verkehrssicherheit bei flächenhafter Verkehrsberuhigung, veröffentlicht in Schriftenreihe Lehrstuhl für Verkehrswesen der Ruhr-Universität Bochum, Ausgabe/Auflage 11, 1993
[BMV92] Bundesanstalt für Straßenwesen, Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung, Umweltbundesamt, Baier, R., Kiepe, F., Krause, J., Müller, P., Peter, Ch., Schleicher-Jester, f., Topp, H.H., Wicht, O. Flächenhafte Verkehrsberuhigung - Folgerungen für die Praxis, 1992/03
[TOPP11] Topp, H. H. Shared Space - Die Verkehrsberuhigung geht weiter!, veröffentlicht in Straßenverkehrstechnik, 2011/05
[UBA16j] Heinrichs, Eckhardt, Scharbarth, Frank, Sommer, Karsten Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen, 2016, ISBN/ISSN 2363-832X
[UBAo.J.] Umweltbundesamt, Fachgebiet I 3.1 Flächenhafte Verkehrsberuhigung, 1983/01/01
[Welge96] Welge, Axel Die Einrichtung von Tempo-30-Zonen in den Städten, Rechtliche Rahmenbedingungen - Umsetzung der Zonenregelung in den Städten, veröffentlicht in Straßenverkehrstechnik, Ausgabe/Auflage 2, 1996
Rechtsvorschriften
[StVO] Straßenverkehrs-Ordnung (StVO)
Glossar
StVO Die Straßenverkehrsordnung  legt Regeln für sämtliche Straßenverkehrsteilnehmer fest und bildet somit eine Rechtsverordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Verkehrsaufkommen Das Verkehrsaufkommen beschreibt die Anzahl der zurückgelegten Wege, beförderten Personen oder Güter pro Zeiteinheit. Im Unterschied dazu bezieht sich das spezifische Verkehrsaufkommen auf zurückgelegte Wege und beschreibt die mittlere Anzahl der Ortsveränderungen pro Person und Zeiteinheit.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?83313

Gedruckt am Donnerstag, 28. März 2024 11:10:38