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Notevakuierung von Luftfahrzeugen

Erstellt am: 10.12.2003 | Stand des Wissens: 15.02.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

Bei dem Unfall eines Luftfahrzeuges besteht die große Gefahr einer Brand- und Rauchentwicklung. Im Falle einer Notwasserung ist außerdem die Schwimmfähigkeit eines Flugzeuges zeitlich begrenzt. Aus diesem Grund sollen die Passagiere die Kabine im Havariefall so schnell wie möglich verlassen können. Bei der Musterzulassung ist je nach Flugzeugkategorie vom Hersteller nachzuweisen, dass alle Passagiere innerhalb von einer definierten Zeit, bei Verkehrsflugzeugen zum Beispiel 90 Sekunden, evakuiert werden können - auch dann, wenn nur die Hälfte aller Notausgänge zu Verfügung steht. Die Anzahl und Größe der Ausgänge ist durch die Zahl der Passagiersitze bestimmt. Die Kabinentüren werden durch zusätzliche Notausgänge ergänzt. Sie sind gleichmäßig über die Rumpflänge verteilt, da ein Höchstabstand zwischen Passagiersitz und Notausstieg nicht überschritten werden darf. Aufgrund des Höhenabstands der Passagierkabine vom Erdboden sind bei großen Verkehrsflugzeugen Notrutschen zur Evakuierung der Passagiere vorgesehen. Bei einer Notentriegelung der Türen entfalten sich diese automatisch und werden binnen Sekunden durch ein unter Druck stehendes Füllgas aufgeblasen. Alle drei bis fünf Jahre wird eine Kontrolle der Notrutschen hinsichtlich Materialschäden und bestehender Funktionstüchtigkeit vorgenommen. Studien für die französische Luftfahrtbehörde untersuchen die Alterungserscheinungen dieser Sonderausrüstung [DGAC01a]. Festgestellt wurden eintretende Porosität, Materialablösung oder das Versagen von Nähten. Weiterführende Untersuchungen der Alterungserscheinungen wurden empfohlen.

Neue Flugzeugkonfigurationen
Die Anordnung der Rutschen ohne gegenseitige Behinderung kann bei doppelstöckigen Flugzeugkonfigurationen schwierig sein. Beim Großflugzeug Airbus A380 (siehe Abbildung 1) wurden die Notrutschen trapezförmig konstruiert. Unterschiedliche Oberflächenrauhigkeiten bremsen die Geschwindigkeit bei Verwendung der 15 Meter langen Rutschen des Oberdecks. Eine Massereduktion konnte durch die Verwendung neuer Materialien und Füllstoffe erzielt werden. Dennoch bleibt eine genügende Stabilität der Rutschen bei einem Seitenwind von 25 Knoten erhalten. Die Zulassungsbestimmungen erfordern auch eine Evakuierungsmöglichkeit in einer gekippten Flugzeuglage, bei der die Rumpfnase nicht auf dem Erdboden ist. Zur Anpassung an die zusätzliche Höhe wurde mit der adaptiven Längung der vordersten Notrutsche eine innovative Lösung gefunden [Pope03]. Bei Nurflügel-Konzepten ist die schnelle Notevakuierung durch die erheblich größere Kabinenbreite erschwert.

die-evakuierung-eines-airbus.gifAbbildung 1: Evakuierung beim Airbus A380 [FAZ06]


Optimierung der Notverfahren
Zur richtigen Vorgehensweise bei einer Notevakuierung werden die Passagiere vor jedem Flug über die Verwendung der Hilfsmittel informiert. Die vom Kabinenpersonal ausgeführten Sicherheitsinstruktionen werden jedoch häufig nicht mit der notwendigen Aufmerksamkeit verfolgt. Untersucht wurden daher neue Präsentationstechniken zu bessern Information der Passagiere. In einem besseren Wissensstand der Passagiere über verfügbare Notausstiege sehen Studien einen vielversprechenden Sicherheitsgewinn. Eine verbesserte und erweiterte Schulung des Kabinenpersonals wird von einer französischen Studie [DGAC01a] ebenfalls für zweckmäßig erachtet. Die Flugzeughersteller geben darüber hinaus zahlreiche Studien zur Optimierung der Evakuierung in Auftrag. Neue computergestützte Methoden ermöglichen realitätsnahe Simulation von Evakuierungsvorgängen.
Seenotausrüstung
Zur Notwasserausrüstung zählen Schwimmwesten und -hilfen sowie Rettungsschlauchboote beziehungsweise Rettungsflöße. Im Falle von Flügen, die mehr als 90 Kilometer von der Küste entfernt über Wasser fliegen beziehungsweise diese im Gleitflug nicht mehr erreichen können, müssen Flugzeuge mit einer Schwimmweste, oder einer entsprechenden Schwimmhilfe für jeden Passagier ausgerüstet sein. Gleiches gilt für Flugzeuge, die Flughäfen anfliegen, deren Start- und Landebahn in Richtung Wasser läuft. Weitere Schwimmwesten müssen für 20 Prozent der Insassen in der Nähe der Ausgänge untergebracht sein. Schwimmhilfen sind Sitzkissen, auf dem die Passagiere sitzen und an denen sie sich mit entsprechenden Haltegurten im Wasser festhalten können. Sie werden vor allem bei Regionalflugzeugen verwendet. Bei Langstreckenflügen über Wasser müssen die Flugzeuge zusätzlich mit Rettungsflößen ausgestattet sein, wenn die Entfernung zu Landeplätzen größer als 700 Kilometer (oder die Flugzeit zu ihnen mehr als zwei Stunden beträgt). Die Tragfähigkeit und Sitzzahl muss ausreichen, um alle Insassen des Flugzeuges unterzubringen und etwaige Bootsverluste auszugleichen. Die Boote verfügen über Schlepp- und Halteleine sowie einer Notversorgung für die Passagiere. Standardmäßig gibt es 10-, 15-, 20- und 26-Mann-Boote. Wird die Notrutsche als Rettungsboot verwendet, finden sogar 60 bis 75 Personen in ihnen Platz.

Notrutschen und Rettungsleinen
Flugzeuge deren Notausstiege mehr als 1,80 Meter vom Boden entfernt sind, müssen für die Fluggäste Notrutschen an den Ausgängen, die nicht über den Tragflächen liegen, vorsehen. Die automatischen Rutschen müssen sich während der Zeit entfalten, in der die Tür geöffnet wird. Nach weiteren zehn Sekunden muss sie aufgerichtet sein, wobei das untere Ende selbsttragend auf dem Boden aufliegt. Bei den Notausstiegen über den Tragflächen sind Rutschen anzubringen, wenn der Fluchtweg ebenfalls in mehr als 1,80 Meter Höhe vom Boden endet (zum Beispiel über die Landeklappen). Das Aufblasen der Rutschen erfolgt mit einer Stickstoff-Gasflasche oder einem Gasgenerator innerhalb von sechs Sekunden. Die Notausstiege für die Cockpitbesatzung verfügen über Rettungsleinen, über die ein Abseilen aus dem Flugzeugführerraum ermöglicht wird. Bei Großraumflugzeugen sind es Abseilvorrichtungen, wo das Abspulen des Stahlseils durch eine Bremsvorrichtung abgebremst wird.
Seenotausrüstung
Soll das Flugzeug über Wassergebieten betrieben werden, müssen Vorkehrungen getroffen sein, um das Überleben von Passagieren nach einer Notwasserung zu ermöglichen. Notrutschen können so konzipiert sein, dass sie nach einer Notwasserung als Rettungsinsel dienen. Notvorräte, Notfunkgeräte und pyrotechnische Signalmittel gehören zur Sonderausstattung. Die Ausrüstungsvorschriften legen der Annahme zugrunde, dass ein Passagierflugzeug auf offener See eine Notlandung ausführt. Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass praktisch alle überlebbaren Flugunfälle mit Wasserberührung bei einem Start- oder Landeunfall auftreten. Auf dieses Szenario sind die Ausbildungsinhalte des Kabinenpersonals zu wenig abgestimmt [FSF98a].
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Sicherheitsaspekte im Flugbetrieb (Stand des Wissens: 20.02.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?87967
Literatur
[DGAC01a] Escoffier, E. Preliminary Study on Aircraft Evacuation Systems Aging, Zodiac, Aerazur Aerosafety Systems Division, 2001/12/20
[FAZ06] Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH (Hrsg.) Evakuierungstest: 873 Menschen in 80 Sekunden , 2006/03/26
[FSF98a] Flight Safety Foundation (FSF) Analysis of Training for Emergency Water Landings Questions Assumptions, Inconsistencies, veröffentlicht in Cabin Crew Safety, Ausgabe/Auflage Vol. 33 No.6, Nov. - Dez. 1998, Flight Safety Foundation, Alexandria, VA, USA, 1998/11, ISBN/ISSN ISSN 1057-5553
[Pope03] Pope, T. A380 evacuation - a smooth slide to safety, veröffentlicht in Aircraft Technology Engineering & Maintenance, Ausgabe/Auflage 2003, August/September, Aviation Industry Press, London, UK, 2003/09
Weiterführende Literatur
[FSF00] Flight Safety Foundation (FSF) Cabin Crew Must Capture Passengers` Attention in Predeparture Safety Briefings, veröffentlicht in Cabin Crew Safety, Ausgabe/Auflage Vol. 35 No.4 julyAugust 2000, Flight Safety Foundation, Alexandria, VA, USA, 2000/07, ISBN/ISSN ISSN 1057-5553
[GAIN01a] o. A. Cabin Safety Compendium, Global Aviation Information Network, 2001/12
[ETSC96] Jorna, P. Dr. (Chairman), Taylor, F., Amalberti, R. Dr., Wegmann, H. Dr., McDonald, N. Dr. , van Schagen, I., Piers, M. Dr. Increasing the Survival Rate in Aircraft Accidents - impact protection, fire survivability and evacuation, European Transport Safety Council, Brüssel, Belgien, 1996/12, ISBN/ISSN ISBN 90-801936-8-2
[DGAC01] Estegassy, R., Koning, Y., Regulatory Study on Emergency Evacuations. Final Synthesis and Recommendations, 1999/09
[NTSB00c] k.A. Safety Study-Emergency Evacuation of Commercial Airplanes, National Transportation Safety Board Public Inquiries Section, RE-51 490 L'Enfant Plaza, S.W. Washington, D.C., 2000/06/27
[JAA03a] Muir, H., Wilson, R., Thomas, L., Andlauer, E., Joseph, S., Moulin, L., Galea, E., Blake, S., Gwynne, S., Gooding, M. Very Large Transport Aircraft (VLTA) Emergency Requirements Research Evacuation Study (VERRES) - A Project Summary, 2003/11
Glossar
Tragfähigkeit Wasserverdrängung eines voll abgeladenen Schiffes abzüglich der Schiffsmasse. Umfasst die Massen von Besatzung, Passagieren, Ladung, Brennstoffen, Wasser und aller Vorräte.
übliche Abkürzungen:  Tons deadweighttdw), Dead weight tons)
Szenarien Ein Szenario ist ein Bild der Zukunft, das sich aus einer bestimmten Kombination von relevanten Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen entwickelt. Das grundsätzliche Anliegen von Szenarien besteht darin, verschiedene Handlungsoptionen zu verdeutlichen und ihre Folgewirkungen transparent zu machen.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?68538

Gedruckt am Freitag, 19. April 2024 16:25:55