Kinder- und familienfreundliche Gestaltung des ÖPNV
Erstellt am: 30.06.2022 | Stand des Wissens: 15.08.2022
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Mobilitätsbeeinträchtigungen begrenzen sich nicht ausschließlich auf ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, auch Kinder, Schwangere, Kinderwagennutzende und Familien mit Kleinkindern sind im erweiterten Sinne als mobilitätsbeeinträchtigt einzustufen. Kinder sind hierbei als die potenziellen ÖPNV-Kunden der Zukunft anzusehen, wobei ihre eigenen Nutzungserfahrungen [FGSV99b, Seite 5] sowie durch Beobachtungslernen von den Eltern übernommenes Verkehrsverhalten ihr späteres Nutzungsverhalten prägen [Blad00, Seite 87]. Um die eigenständige Mobilität von Kindern nachhaltig zu unterstützen gilt es daher auch Eltern und Familien als Zielgruppe anzusprechen [BMDV21a, Seite 185].
![Abbildung 1: Aspekte der Barrierefreiheit für Schwangere, Kinder und Familien im ÖPNV (eigene Darstellung aufbauend auf [Eintrag-Id:554451]) 1. Abbildung 3.1.: Aspekte der Barrierefreiheit für Schwangere, Kinder und Familien im ÖPNV Die vorliegende Abbildung zeigt eine typische Wegekette einer ÖPNV-Reise. Die Reisekette setzt sich aus den Elementen Wunsch der Ortsveränderung, Zugang, Ticketerwerb, Warten, Einstieg, Fahrt, Ausstieg und Abgang zum Ziel zusammen. Für jedes dieser Teilelemente werden in der Abbildung die Interessen und Probleme der folgenden vier Nutzergruppen gegenübergestellt. Kinderwagennutzer, eigenständig mobile Kinder, Schwangere sowie Familien mit mindestens einem Kleinkind. Über allen Wegelementen stehen die für die gesamte Reise gültigen grundlegenden spezifischen Anforderungen. So gilt es bei eigenständig mobilen Kindern zu beachten, dass diese eine geringere Körpergröße haben, ihre Fähigkeiten erst im Laufe der Zeit entwickeln, bisher noch kaum über Erfahrungswissen verfügen und insbesondere im Freizeitverkehr den Wunsch der Fahrradmitnahme haben. Für Familien ist zu beachten, dass besonders bei Kinderwagennutzung oder Kleinkindern häufig größere Gepäckmengen zu bewältigen sind. Zudem wird von den Eltern ein hohes Maß an geteilter Aufmerksamkeit, für die Beaufsichtigung ihrer Kinder und der gleichzeitigen Bewältigung aller für eine Fahrt im ÖPNV nötigen Aufgaben, gefordert. Es folgen nun die bereits genannten Wegelemente mit den zugeordneten Interessen der genannten Nutzergruppen in der Reihenfolge ihres Auftretens bei einer Reise mit dem ÖPNV. Wunsch der Ortsveränderung: Eigenständig mobile Kinder benötigen kindgerechte und leicht begreifbare Informationen. Alle kinderspezifischen Ziele, auch im Freizeitverkehr, sollten erreichbar sein. Kinderwagennutzer, Schwangere und Familien mit Kleinkind benötigen Informationen zur baulichen Barrierefreiheit entlang der gesamten Wegekette. Zudem müssen für sie Familienspezifische Ziele erreichbar sein. Zugang zum ÖPNV: Der Zugang erfolgt in der Regel durch die Nutzung des Fuß- oder Radverkehrs. Bei Nutzung des Radverkehrs gilt für eigenständig mobile Kinder und Familien mit Kleinkind, dass ein durchgängiges, fehlertolerantes Radwegenetz vorhanden sein sollte. Gute Sichtbeziehungen, breite, vom übrigen Verkehr abgegrenzte und geschützte Radwege sowie regelmäßige, gesicherte Querungsmöglichkeiten sind wichtig. Verkehrsberuhigung und je nach Verkehrsaufkommen und baulicher Situation die Freigabe des Gehweges für den Radverkehr können hilfreich sein. Bei der Nutzung des Fußverkehrs gilt für eigenständig mobile Kinder, Familien mit Kleinkind, Schwangere und Kinderwagennutzer, dass ein durchgängig barrierefreies Wegenetz mit Verweilmöglichkeiten, breiten Wegen, keinem oder kaum Gehwegparken und regelmäßigen gesicherten Querungsmöglichkeiten nötig ist. An Lichtsignalanlagen sollte die Freigabezeit an die geringeren Gehgeschwindigkeiten angepasst sein. Auch bei geringer Körpergröße sollte alles Relevante einsehbar sein. Verkehrsberuhigung kann hilfreich sein. Ticketerwerb: Für Kinder und Familien sollte spezielle und leicht verständliche Tarife vorhanden sein. Insbesondere eigenständig mobile Kinder benötigen einen einfachen Ticketerwerb und Angebote, die eine multimodale Nutzung ermöglichen. Warten: Für eigenständig mobile Kinder, Familien mit Kleinkind und Kinderwagennutzer ist eine ausreichend große Wartefläche und eine Trennung von Aufenthaltsfläche und Fahrbahn nötig. Schwangere benötigen zudem ausreichend Sitzmöglichkeiten und für eigenständig mobile Kinder sollten die Abfahrtsinformationen leicht verständlich dargestellt sein. Einstieg: Eigenständig mobile Kinder, Familien mit Kleinkind, Schwangere und Kinderwagennutzer benötigen einen stufenfreien Zustieg mit möglichst geringem Spalt zwischen Fahrzeug und Haltestelle. Für eigenständig mobile Kinder sollte es auch mit geringen Lesefähigkeiten leicht möglich sein die richtige Linie zu erkennen. Fahrt: Eigenständig mobile Kinder, Schwangere und Familien mit Kleinkind benötigen Sitzmöglichkeiten und ausreichend Platz im Fahrzeug. Kinderwagennutzer benötigen ausreichend Stellfläche mit Sitzgelegenheit. Und eigenständig mobile Kinder sind auf Festhalte- und Kommunikationseinrichtungen in einer für sie erreichbaren Höhe angewiesen. Zudem benötigen sie leicht verständliche Informationen zum Fahrtverlauf. Auch eine Busbegleitung in Form eines Aufpassers im Fahrzeug kann hilfreich sein. Ausstieg: Es wiederholen sich die Anforderungen des Einstiegs. Abgang: Es wiederholen sich die Anforderungen des Zugangs.](/servlet/is/554408/Wegekette%20Familien%20.jpg)
Der Schulbesuch stellt für Kinder wochentags den wichtigsten Wegezweck dar, wobei der Verkehr von Schüler und Schülerinnen als Spannungsfeld zwischen Qualität und Wirtschaftlichkeit anzusehen ist [FGSV12d, Seite 9]. Der rechtliche Rahmen für die Schülerbeförderung wird durch die örtlich gültigen Schulgesetze, die Schulverwaltungsgesetze und die Schulfinanzgesetze geschaffen. Diese werden von den Ländern und Kommunen erlassen, bundeseinheitliche Vorgaben gibt es hierbei nicht. Auch die Refinanzierung der Beförderungskosten von Schülern und Schülerinnen, die den Verkehrsbetrieben entstehen sind landesrechtlich geregelt. Es wird im PBefG jedoch ein Ausgleichszahlungsanspruch bundesrechtlich vorgegeben. Am wirtschaftlichsten ist eine Integration des Schülerverkehrs in das bereits bestehende ÖPNV-Angebot [FGSV12d, Seite 17f]. Bei der Planung der Schülerverkehrs sollte immer eine enge Abstimmung aller Akteure, sowie die ganzheitliche Betrachtung der gesamten Mobilitätskette entlang des Schulweges erfolgen [FGSV12d, Seite 63].
![Abbildung 2: Akteure und Akteurinnen des Schülerverkehrs und ihre Interessen (eigene Darstellung aufbauend auf [Eintrag-Id:554493]) 2. Abbildung 3.2: Akteure des Schülerverkehrs und ihre Interessen In der Abbildung werden die Interessen der verschiedenen Akteure des Schülerverkehrs und die daraus resultierenden Zielkonflikte dargestellt. Die vier Akteure sind Eltern, Schüler, Schulen/Schulträger/Schülerbeförderungskostenträger und Fahrpersonal/ÖV Unternehmen/Aufgabenträger der ÖV Unternehmen. Zunächst werden die Interessen dieser Gruppen nacheinander dargestellt. Eltern: Wünschen Sicherheit für ihre Kinder auf dem gesamten Schulweg. Eine pünktliche, zuverlässige und kostengünstige Beförderung. Die Unterrichtszeitnahe Beförderung insbesondere bei Ganztagsunterricht. Eine Beaufsichtigung der Kinder bei längeren Wartezeiten und die Vereinbarkeit der Fahrzeiten mit ihrem Beruf. Schüler: Wünschen eine schnelle, regelmäßige, komfortable Beförderung mit ausreichend Platzangebot. Kurze Wartezeiten und möglichst eine Beförderung ohne Umstiege sowie Verständnis für Verhalten und Situation durch andere. Schulen/Schulträger/Schülerbeförderungskostenträger: Wünschen keine Beeinflussung des Schulablaufs und eine Berücksichtigung der Interessen der Schulen, Leistungsfähigkeit und Flexibilität des Verkehrsträgers sowie eine sichere und kostengünstige Beförderung. Fahrpersonal/ÖV Unternehmen/Aufgabenträger der ÖV Unternehmen: Wünschen Unterstützung durch Schüler, Eltern und Schulen, ein angemessenes Verhalten der Schüler an Haltestellen und gegenüber anderen Fahrgästen. Außerdem soll die Verkehrsabwicklung kostendeckend und wirtschaftlich, also möglichst im regulären Linienverkehr. Auch die Entzerrung von Verkehrsspitzen, durch angepasste Schulzeiten ist gewünscht. All diese verschieden Interessen führen zu einem Zielkonflikt aus dem Wunsch nach einem hohen Qualitätsstandart bei gleichzeitig geringen Kosten. Zur Lösung dieses Problems ist ein hohes Maß an Kooperation und Koordination aller Beteiligter nötig. Besonders problematisch sind Lösungen jedoch im ländlichen Raum mit schwachem bis keinem ÖPNV-Angebot zu realisieren.](/servlet/is/554408/Akteure%20Schuelerverkehr.jpg)
Rückläufige Zahl der Schüler und Schülerinnen und immer stärker streuende Schulendzeiten stellen Verkehrsunternehmen gerade in ländlichen Regionen vor immer neue Herausforderungen. Eine Möglichkeit dem zu begegnen, wurde mit der Einführung eines bedarfsgerechten Bediensystems für den Schülerverkehr am Nachmittag in der Stadt Olfen geschaffen. Durch die tagesaktuelle Planung des Linienverlaufs entsprechend der tatsächlichen Nachfrage können Leerfahrten reduziert und Betriebsmittel effizient und kostensparend eingesetzt werden [Olfe22], Im Freizeitverkehr nach Schulschluss und an Wochenenden ergibt sich eine ähnliche Problematik. Insbesondere im ländlichen Raum, wo die Angebotsdichte des ÖPNV gering ist und der Verkehr von Schüler und Schülerinnen nicht selten die einzige Form des ÖPNV darstellt. Es ergeben sich Probleme für die selbstständige Mobilität von Kindern, da typische Ziele des Freizeitverkehrs nicht erreichbar sind [FGSV99b, Seite 21]. Spezielle Angebote wären nötig, jedoch fehlen kleineren Kommunen hierfür die Finanzierungsmöglichkeiten [BMDV21a, Seite184].
Um Kinder und Familien als Zielgruppe zu erreichen, stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Im Rahmen der schulischen Verkehrs- und Mobilitätserziehung soll Kindern neben den Aspekten der Verkehrssicherheit als Radfahrende und zu Fuß Gehenden und dem richtigen Verhalten bei der ÖPNV-Nutzung, Umwelt-, Gesundheits-, und Verantwortungsbewusstsein bei der Verkehrsmittelwahl sowie ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten für ein nachhaltiges Mobilitätssystem der Zukunft vermittelt werden [FGSV10a, Seite 35]. Neben der Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien zu diesem Zweck ist auch das Angebot von Materialien zur Freizeitgestaltung, wie z.B. die von den Dresdner Verkehrsbetrieben angebotenen Mal- und Bastelvorlagen, den Schnitzeljagdähnlichen Detektivspielen zum Erkunden der Stadt mit dem ÖPNV [DVB22e; DVB22c; DVB22b und DVB22d], oder dem YouTube-Kinderkanal der Ruhrbahn mit informativen und lustigen Videos rund ums Thema ÖPNV eine gute Möglichkeit Kinder anzusprechen. Auch spezielle Tarifangebote wie die BabyCard der Leipziger Verkehrsbetriebe, die es einer Begleitperson das erste Jahr nach der Geburt ermöglicht kostenlos mit dem Baby den ÖPNV im Tarifgebiet zu nutzen [LVB22] , eignen sich Familien bereits früh als Zielgruppe anzusprechen und zur ÖPNV-Nutzung zu animieren. Angebote wie das Bildungsticket in Sachsen [DVB22a] oder das Schülerticket in Hessen [RMV22] sind anders als sonst übliche Schülerfahrkarten nicht nur für den Schulweg, sondern auch für den Freizeitverkehr und an Wochenenden und in Ferien gültig und fördern so die eigenständige Mobilität der Kinder im ÖPNV.
Auf verschiedenen gesetzlichen Ebenen wird eine Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in Planungsprozesse, die ihr Leben betreffen vorgegeben. Dies gilt auch für die Verkehrsplanung. Eine Beteiligung der Kinder als Experten und Expertinnen ihres eigenen Lebensumfeldes kann hier positive Aspekte auf die Fachplanung haben. Es sind bei der Wahl der Projektmethoden allerdings die altersspezifischen Fähigkeiten zu berücksichtigen [FGSV10a].