Konzepte für einen pandemieresilienten öffentlichen Verkehr
Erstellt am: 16.06.2022 | Stand des Wissens: 16.06.2022
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Sinkende Fahrgastzahlen, wie sie die Unternehmen des öffentlichen Verkehrs (ÖV) seit Beginn der Coronapandemie verzeichnen, sind ein Problem für die nachhaltige Finanzierung des ÖV. Die Angst vor einer Infektion und die daraus entstehenden Ansprüche an das bestehende Platz- und Qualitätsangebot haben einen höheren Stellenwert bei der Entscheidung für oder gegen die Nutzung des ÖV eingenommen. Gleichzeitig zeigen die sich langsam erholenden Kundenzahlen im Verlauf der Pandemie, dass weiterhin ein Bedarf für den ÖV besteht. Um den gesteigerten Ansprüchen gerecht zu werden, ist eine Erweiterung und Aufstockung des Angebots sowie infrastrukturelle Ausbaumaßnahmen nötig. Hier kann eine Teilfinanzierung von öffentlicher Hand unterstützen. Während jedoch der Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) eigenwirtschaftlich durch die Eisenbahnverkehrsunternehmen und der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) über das Regionalisierungsgesetz (RegG) durch Regionalisierungsmittel finanziert werden, fehlt im ÖPNV eine verbindliche Zuwendungsgrundlage für den Betrieb von Bus und Stadtbahnen. [AGOR20, S. 32]
Kontaktvermeidung und Abstandsregelungen haben der Digitalisierung im ÖV eine neue Bedeutung gegeben. Die vermehrte Nutzung digitaler Ticketsysteme kann in Zukunft den Zugang zum ÖV erleichtern und die Anwendung komplizierter Tarifstrukturen vereinfachen. Auch die veränderten Arbeitsverhältnisse, vermehrte Heimarbeit oder gleitende Arbeitszeiten erfordern flexible Zeitfahrkarten, die nicht mehr von einem täglich sich wiederholenden Pendelweg ausgehen. Ein variables Tarifmodell wird seit Juni 2021 vom Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) und der Rheinbahn in Düsseldorf getestet: Mit dem sogenannten FlexTicket zahlen Beschäftigte einen festen monatlichen Betrag und erhalten vergünstigte 24-Stunden-Tickets im Zeitraum eines Monats. [VRR21] Auch außerhalb des Pendelverkehrs lassen sich neue Abrechnungsmodelle etablieren, wie etwa eine Best-Preis-Abrechnung, die auf Basis der gewählten Strecke und des Ticketkaufverhaltens das günstigste Angebot errechnet. Seit Oktober 2020 bieten zum Beispiel die Stadtwerke Osnabrück Fahrgästen die Möglichkeit, bei allen Fahrten innerhalb einer Woche den günstigsten Fahrpreis zu berechnen. [Linn22 Auch im Fernverkehr der Deutschen Bahn wurde auf die Veränderungen im Pendelverhalten reagiert mit dem 20-Fahrten-Ticket können Einzelfahrten flexibel monatlich abgerechnet werden. [DBAG20ca, S. 11]
Zur Entlastung von Fahrzeugen und zum besseren Passagiermanagement können Auskunftssysteme die Auslastung der Fahrzeuge und Reisealternativen anzeigen. In Spanien, England oder Victoria (Australien) wurden testweise Fahrzeugbelegungen in Echtzeit erfasst und über die Anzeigetafeln in den Haltestationen übermittelt. [Geer21]
Um die Nutzung von öffentlichen Verkehrsangeboten so einfach und effizient wie möglich zu gestalten, braucht es integrierte Lösungen. Verkehrsunternehmen ebenso wie Anbieter von Ridepooling oder Ridesharing können etwa eine Zusammenarbeit anstreben, um Flächennutzung für und von Fahrzeugen in verdichteten Stadtzentren zu regulieren und zu optimieren. Gleichzeitig kann dieses Angebot alternativer und ergänzender Verkehrsmittel, das derzeit noch vor allem in Innenstädten zu finden ist, auf Außenbezirke und ländliche Bereiche ausgeweitet werden. So kann gerade dort der Problematik der ersten und letzten Meile sowie von großen Taktabständen begegnet werden.
Die anfängliche Unsicherheit hinsichtlich der Übertragungswege und Ansteckungsrisiken durch COVID-19 hat den ÖPNV nachhaltig geschwächt. Das Nutzerverhalten im ÖV hängt stark davon ab, wie vertrauenswürdig, verlässlich und (infektions)sicher der ÖV wahrgenommen wird. Dies ist nicht nur in Krisenzeiten, sondern auch im Normalbetrieb von großer Bedeutung. Verkehrsunternehmen hilft es deshalb, auch mit Unterstützung von Bund, Ländern und Verbänden, mit klaren Strategien und deutlicher Kommunikation aufzutreten. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen gilt es nicht nur umzusetzen, sondern auch transparent und über unterschiedliche Kanäle an ihre Nutzer zu kommunizieren. Studien und Modellierungen zeigen, dass sich Maßnahmen wie Mund-Nasen-Bedeckung, regelmäßiges und automatisches Lüften, die Verminderung des Besetzungsgrades und vermehrte Hygienevorkehrungen deutlich positiv auf das Infektionsrisiko auswirken. [DLR20d] Die offene Kommunikation dieser Erkenntnisse kann dazu beitragen, die Rück- und Neugewinnung des Kundenkreises transparent und vertrauensvoll zu gestalten. Gemeinsam mit Bund und Ländern hat der Verband deutscher Verkehrsunternehmen deshalb die Kampagne #besserweiter gestartet und informiert über aktuelle Studienergebnisse, Maßnahmen im ÖV oder Änderungen der Corona-Schutzregeln. [VDV22a]
Im Mai 2022 wurde die Einführung eines bundesweit gültigen 9-Euro-Tickets über eine Aktionszeitraum von drei Monaten beschlossen. Für jeweils einen Monat geltend können damit im Juni, Juli und August 2022 sämtliche Nahverkehrsmittel in ganz Deutschland genutzt werden. Auf diese Weise sollen die Bürger finanziell entlastet, Neukunden akquiriert und dadurch auch langfristig zum Klimaschutz beigetragen werden. Die Aktion soll die Kunden von der Leistungsfähigkeit des ÖPNV überzeugen und den Umstieg fördern. Gleichzeitig weist der Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) darauf hin, dass hohe Erwartungen der Kunden an die Nutzung des 9-Euro-Tickets geknüpft sind und die große Nachfrage streckenweise zu sehr vollen Verkehrsmitteln führen kann. [VDV22b] Ob diese Befürchtung eintritt und möglicherweise negative Auswirkungen auf das Vertrauen in den ÖPNV hat, lässt sich jedoch erst nach Ende des Aktionszeitraumes evaluieren.