Chancen für den Stadtraum durch pandemiebedingte Mobilitätsveränderungen
Erstellt am: 16.06.2022 | Stand des Wissens: 16.06.2022
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Politische Vorgaben, wie Abstandsregeln oder die Einschränkung von Innenraumnutzung zur Eindämmung des Infektionsgeschehens durch COVID-19 stellten neue Herausforderungen an die Bevölkerung. Der Wunsch nach risikoarmen sozialen Kontakten führte die Menschen an die frische Luft. Grünflächen wurden häufiger besucht, vor allem von Jüngeren über 18 Jahren, von Familien mit kleinen Kindern und von Personen, die bereits vor der Pandemie mehrfach pro Woche die Grünflächen nutzten. [FORSA20, S. 16] In den ersten Monaten der Pandemie machte sich die Veränderung von Gewohnheiten und Routinen auch im Stadtbild bemerkbar: Deutlich weniger Pkw befuhren die Straßen, gleichzeitig stiegen die Zahlen im Rad- und Fußverkehr. Der wachsende Anteil von aktiver Mobilität zeigte bald, dass es auch abseits von Grünflächen mehr Aufenthaltsraum in den Städten brauchte. Viele freigewordene Straßenflächen wurden deshalb schnell neu genutzt auf unterschiedliche Art, je nach lokalen Bedarfen.
Ein bekanntes Beispiel für eine Umnutzung von Verkehrsflächen zu Beginn der Coronapandemie sind Pop-Up-Radwege: Durch Markierungen werden zeitweise ungenutzte Straßenflächen dem Radverkehr überlassen. Diese Maßnahme kam in vielen Metropolen zur Anwendung. Während die Pop-Up-Radwege zunächst als Reaktion auf die gesteigerte Nachfrage eingesetzt wurden, stellten Kraus/Koch fest, dass die Einrichtung der Radwege zu einer deutlichen Steigerung des Radverkehrsverhaltens führen kann. [KrKo21, S. 1] Besonders deutlich zeigten sich im Rahmen der Studie die Veränderungen in größeren Städten sowie in Städten mit einem höheren Anteil des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) am Modal Split. Städte mit höherer Durchschnittsgeschwindigkeit, mehr Verkehrstoten und höherer Pkw-Quote zeigten dagegen geringere Veränderungen im Verkehrsverhalten. [KrKo21, S. 3] Somit profitieren Städte, in denen schon jetzt ein weniger autozentriertes Mobilitätsverhältnis herrscht, deutlich stärker von der Einrichtung von Pop-Up-Radwegen als jene mit unterrepräsentierter Fahrradmobilität.
Die rechtliche Grundlage für die Einrichtung von Pop-Up-Radwegen bilden der Paragraf 45 Absatz 1 Satz 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) und der Paragraf 45 Absatz 1 Satz 2 Nummer 5 und 6 StVO [DBT20a, S. 5-7] . Sie gestatten die Anlage eines Radfahrstreifens aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs, zum Schutz vor Gefahren, die vom Verkehr ausgehen, jedoch Dritte oder die Umwelt betreffen sowie aus Gründen der Erprobung und Erforschung. Begleitend tritt Paragraf 45 Absatz 9 in Kraft, der den angeordneten Radfahrstreifen das alleinige Nutzungsrecht durch den Radverkehr zuspricht. Diese verbietet dem motorisierten Verkehr, auch bei ausreichender Fahrspurbreite, den ausgewiesenen Radweg zu nutzen. [DBT20a, S. 5] Städtebaulich bietet diese Bestimmung große Chancen für die Förderung und Sicherung des Radverkehrs und leistet damit einen erheblichen Beitrag zur Verkehrswende. In der Regel sind Pop-Up-Radwege, die nach den oben genannten Paragrafen eingerichtet werden, zeitlich begrenzt. Derzeit besteht keine Rechtsgrundlage, die es erlaubt, temporäre Verkehrsinfrastruktur in eine dauerhafte Einrichtung zu überführen, ohne dass ein neues Verfahren eingeleitet werden müsste. [DBT20a, S. 13]
Um dem erhöhten Ansteckungsrisiko in Innenräumen entgegenzuwirken und den entsprechenden politischen Vorgaben zu genügen, verlagerten viele Gastronomiebetriebe in den Sommermonaten der Coronapandemie ihre Sitzplätze nach draußen. An Straßen wurden dafür vermehrt Pkw-Parkplätze umgewidmet, um mehr Aufenthaltsraum zu schaffen. Schon vor Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 zeigten Untersuchungen regelmäßig, dass sich die Verringerung von Pkw-Parkplätzen, die Verbesserung von Infrastruktur für Radfahrer und Fußgänger sowie die vermehrte Einrichtung von Außensitzplätzen und Aufenthaltsflächen positiv auf Kunden- und Verkaufszahlen auswirken. [VTPI22, S. 15; UBA18g, S. 22f.] , Gerade im Hinblick auf die coronabedingt prekäre wirtschaftliche Lage der Gastronomie bietet die Übernahme von Pkw-Flächen große Chancen. Mehr Raum für Menschen bietet Aufenthaltsqualität und Wohlbefinden über die Pandemiephase hinaus kann die Verstetigung der Nutzung das Straßenbild aufwerten und Gastronomie und Einzelhandel die benötigte wirtschaftliche Unterstützung liefern.
Unter den langanhaltenden Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen hatten und haben vor allem Kinder zu leiden in verdichteten Innenstädten ist der Freiraum knapp, vorhandene Spielplätze sind schnell überfüllt und Straßenräume häufig nicht zum Aufenthalt geeignet. Deshalb richteten viele größere Kommunen, wie Berlin, Köln, Bremen, Stuttgart oder München, temporäre Spielstraßen ein, um Platz an der frischen Luft zu schaffen. Bei diesen Sommerstraßen handelt es sich um Nebenstraßen, die im Sinne der Paragraf 45 VI und Paragraf 31 I StVO zeitweise für den Verkehr gesperrt und ausschließlich zum Spielen freigegeben werden. In Berlin existiert bereits seit 2019 das Bündnis Temporäre Spielstraßen, das sich für deren flächendeckende Einrichtung einsetzt. Die Coronapandemie hat jedoch den Blick für den allgemeinen Mangel an Aufenthalts- und Spielflächen noch einmal geschärft. Angeleitet von der temporären Einrichtung von Spielstraßen werden deshalb in Zukunft auch andere Arten von zeitlich begrenzten Aufenthaltsräumen auf wenig genutzten Straßenflächen denkbar.