Langfristige Auswirkungen von Pandemien auf den Personenverkehr
Erstellt am: 16.06.2022 | Stand des Wissens: 16.06.2022
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Eineinhalb Jahre nach Beginn der COVID-19-Pandemie lassen sich langfristige Folgen für den Personenverkehr noch nicht gänzlich absehen. Gerade für den öffentlichen Verkehr (ÖV) werden jedoch Tendenzen deutlich, die sich bei entsprechender Entwicklung als nachteilig herausstellen könnten.
Die Ansteckungsgefahr in Bussen und Bahnen wird von der Bevölkerung als hoch bis sehr hoch eingestuft. [ADAC21h; WeZe20, S.18] , Dies äußert sich unweigerlich in einem Vermeidungsverhalten gegenüber dem ÖV und kann langfristig zu Imageeinbußen führen. Erhebungen des Instituts für angewandte Sozialwissenschaften (Infas) und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialwissenschaften (WZB) verzeichnen bereits für den Herbst 2020 eine deutliche Zunahme des Anteils des motorisierten Individualverkehrs (MIV) und eine Abnahme des ÖV-Anteils am Modal Split im Vergleich zu den Vorjahren. Auch 2021 hat sich diese Entwicklung noch nicht wieder normalisiert. [WeZe20, S.15] In einer ADAC-Umfrage gibt ein Sechstel der Befragten an, das Auto in Zukunft häufiger nutzen zu wollen. [ADAC21h] Die zunehmende Bedeutung des Autos wird auch in der Verkehrsmittelwahl im Alltag deutlich: Während vor der Pandemie weniger als die Hälfte der Befragten hauptsächlich den Pkw und fast ein Fünftel unterschiedliche Verkehrsmittel nutzten, fuhren während der Pandemie 57 Prozent ausschließlich mit dem Auto zum Einkaufen und lediglich 13 Prozent nutzten verschiedene Verkehrsmittel.
Wie sicher oder unwohl sich die Menschen in ihrer Umgebung fühlen, hat einen großen Einfluss auf ihr individuelles Mobilitätsverhalten. Im Sommer 2020 wurden weniger Freizeitaktivitäten als noch 2019 ausgeführt, die das Zusammentreffen einer größeren Anzahl von Menschen voraussetzt unabhängig davon, ob sie im Freien oder in geschlossenen Räumen stattfanden. Auch alltägliche oder freizeitliche Besorgungen sind mit Unwohlsein behaftet. Zwar hat sich das Einkaufsverhalten im Sommer 2020 im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit weitgehend normalisiert, doch fast die Hälfte der Menschen fühlt sich dabei weiterhin unwohler als zuvor. [DLR20e]
Der Individualverkehr, insbesondere der Pkw, aber auch das Fahrrad, vermittelt mehr Sicherheit und Wohlbefinden, während gemeinschaftlich genutzte Verkehrsmittel wie ÖV, Car- oder Ridesharing durch potenzielle Kontakte zu Mitnutzern an Attraktivität und Sicherheitsgefühl verlieren. Der Anteil derjenigen, die das Auto dem ÖV vorziehen, hat sich im Vergleich zur Zeit vor Corona um fast zehn Prozent erhöht, der Anteil der multimodalen Mobilität hat entsprechend abgenommen und liegt unterhalb des Niveaus vor der Pandemie. [DLR20c; DLR21a]
Besonders ausgeprägt ist das Unbehagen gegenüber Fahrten mit dem ÖV bei Frauen, bei Jüngeren und Städtern zugleich sind diese Gruppen diejenigen, die auch im Alltag häufig Bus und Bahn fahren. Es wird deutlich: Jene, die vor und auch noch während der Coronapandemie häufig mit dem ÖV unterwegs sind, bringen ihm im weiteren Pandemieverlauf die größte Skepsis entgegen. [DLR20c; DLR20e]
Dabei lassen zahlreiche internationale und nationale Auswertungen den Schluss zu, dass durch die Nutzung des ÖV kein erhöhtes Infektionsrisiko für COVID-19 besteht. Nach der Auswertung von Daten der Gesundheitsämter konnten auf diese Weise in Ländern wie Japan, Österreich, Frankreich, aber auch in Deutschland keine Infektionen nachgewiesen werden, die eindeutig auf eine Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) zurückzuführen waren. [CRO21, S. 10f.] Die Daten zeigen außerdem, dass die getroffenen Sicherheitsvorkehrungen, wie Mund-Nasen-Bedeckung, Belüftungssysteme oder spezielle Luftfilter ebenso wie ein relativ niedriger Aerosolausstoß das Infektionsgeschehen gering halten. [CRO21, S. 12] Im Frühjahr 2021 führte die Charité Berlin eine Studie durch, die Daten prospektiv, also innerhalb der Studie, erhob und so direkte Schlüsse auf Ansteckungen im Zusammenhang mit öffentlichen oder individuellen Verkehrsmitteln zuließ. Der Vergleich zwischen MIV- und ÖPNV-Nutzern ergab auch hier kein erhöhtes Risiko für eine Erkrankung bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. [CRO21, S. 57]
Trotz Skepsis gegenüber dem ÖV werden die getroffenen Maßnahmen zur Verringerung des Ansteckungsrisikos, vor allem eine regelmäßige Desinfektion und die Maskenpflicht, in der Bevölkerung positiv bewertet. Für Vielfahrer ist auch der Einsatz von mehr Fahrzeugen sowie das kontaktlose Ticketing von Bedeutung. [DLR20e]
Die geringe Auslastung des ÖV führt zu gravierenden finanziellen Einbußen auf Seiten der Verkehrsunternehmen. Während das ÖV-Angebot bis auf wenige Einschränkungen (etwa im Nachtverkehr) aufrechterhalten wurde, sank die Auslastung auf 40 bis 50 Prozent bezogen auf die übliche Fahrgastnachfrage. Die daraus resultierenden finanziellen Verluste wurden über einen vom Bund finanzierten ÖPNV-Rettungsschirm aufgefangen: 2020 flossen 2,5 Milliarden Euro, 2021 eine weitere Milliarde in den Erhalt des ÖV. Auch die Länder bezuschussten den ÖV in 2021 mit einer Milliarde Euro. [VDV21d]
Besonders betroffen sind Regionen, deren ÖV bisher eigenwirtschaftlich betrieben wurde. Die Reduzierung des Angebots, drohende Insolvenz von Busunternehmen, notwendige Notvergaben sowie nur langsam zunehmende Erlöse aus Ticketverkäufen schwächen die Versorgung. Dies macht eine (möglicherweise langfristige) Finanzierung durch die öffentliche Hand zum Ausgleich der Einnahmeausfälle unvermeidlich. [AGOR20, S. 32]
Die Coronapandemie hat gezeigt: Wer ein Auto besitzt oder regelmäßigen Zugang dazu hat, steigt aus Sicherheitsgründen mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf um. Dabei besteht die Gefahr, vorherige, meist nachhaltigere Mobilitätsroutinen aufzugeben und neue Gewohnheiten zu entwickeln zulasten aktiver und geteilter Mobilität. Vermehrt autozentrierte Routinen erhöhen den Pkw-Anteil in den Städten drastisch, schwächen ÖV und Umweltverbund merklich und manifestieren die Verkehrsproblematiken vor allem in verdichteten Zentren zunehmend. Der ÖV ist eine wichtige Säule bei der Erreichung eines nachhaltigen und resilienten Mobilitätssystems auch im Hinblick auf die Daseinsvorsorge. Seine Unverzichtbarkeit, gerade im urbanen Raum, zeigen die seit Jahren kontinuierlich steigenden Nutzerzahlen. Entsprechend schadet die Skepsis, die Bus und Bahn im Zuge der Coronapandemie entgegengebracht wird und die viele Fahrgäste auf das Auto umsteigen lässt, nicht nur dem Personenverkehr selbst. Um europäische und nationale Klimaziele einzuhalten und die dafür benötigte Emissionsreduktion im Verkehr zu erreichen, ist es unerlässlich, den ÖV weiterhin zu stärken, das Vertrauen der Nutzer zurückzugewinnen und auch während der Krise nicht das langfristige Ziel des ÖV-Ausbaus aus den Augen zu verlieren.