Kurzfristige Effekte von Pandemien auf den Personenverkehr
Erstellt am: 16.06.2022 | Stand des Wissens: 16.06.2022
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Die COVID-19-Pandemie und die zur Eindämmung des Infektionsgeschehenes auferlegten Einschränkungen wirken sich auf das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung aus. Diese Verhaltensänderungen hatten deutliche Folgen für den Personenverkehr. Weltweit reduzierte sich die Auslastung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) zeitweise um 60 Prozent, mancherorts um bis zu 90 Prozent. [GkCa21] Auch die deutschen Verkehrsunternehmen verzeichneten während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 lediglich eine Nachfrage von 20 Prozent. Nach Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen erholten sich die Zahlen zunächst leicht, aber stetig (siehe Abbildung 1): Im Sommer 2020 fuhren im Vergleich zur Vor-COVID-Situation noch immer lediglich die Hälfte der regulären ÖPNV-Nutzer mit Bus und Bahn, im September 2020 (vor dem zweiten Lockdown) bereits wieder rund 80 Prozent. Der zweite Lockdown leitete einen erneuten, wenn auch weniger ausgeprägten, Rückgang ein: Seit Dezember 2020 sanken die Fahrgastzahlen auf unter 50 Prozent, im Frühjahr lagen sie bei durchschnittlich 22 bis 40 Prozent der Werte vor Pandemiebeginn. Letztere waren bis kurz vor Eintritt in den ersten Lockdown noch kontinuierlich gestiegen; im Vergleich zum Vorjahr verzeichnete der ÖPNV im Januar und Februar 2020 eine gesteigerte Nachfrage von 4 bis 6 Prozent. [VDV2020; VDV22]
Im Fernverkehr der Deutschen Bahn gingen die Mobilitätszahlen mit Einsetzen der Corona-Beschränkungen ab März 2020 ebenfalls deutlich zurück. Auf Distanzen von über 50 Kilometern nahmen die täglich mit der Bahn zurückgelegten Fahrten um 88 Prozent gegenüber 2019 ab. Im Sommer 2020 erholten sich die Zahlen stetig, blieben jedoch weiterhin um 30 Prozent unterhalb des Vorjahresniveaus. Insgesamt gingen die Fahrgastzahlen 2020 im Fernverkehr im Vergleich zum Vorjahr um fast die Hälfte zurück. Auch in der ersten Jahreshälfte 2021 war ein Rückgang von 57 Prozent gegenüber 2019 zu verzeichnen. [dest22k; DBAG2021, S.73]
Ein Problem für den ÖPNV sind die veränderten Voraussetzungen. Während der Pandemie nutzten nur noch jene Fahrgäste Bus und Bahn, denen keine geeignete Alternative zur Verfügung stand. Dem ÖPNV gehen damit wichtige Kundengruppen verloren Pendler reduzierten ihre Wege, diejenigen, die die Wahl hatten, stiegen auf Rad, Fuß und motorisierten Individualverkehr (MIV) um. Davon profitierten die individuellen Mobilitätsformen und damit auch der Bedarf an entsprechenden Verkehrsmitteln. Größter Gewinner war die Zweirad-Industrie: 2020 wurden mit 5 Millionen Fahrrädern knapp 17 Prozent mehr verkauft als im Jahr 2019, mehr als ein Drittel davon waren E-Bikes (siehe Abbildung 2). Der Verkauf erwirtschaftete ein Umsatzplus von mehr als 60 Prozent im Vergleich zum Jahr zuvor und gilt damit als "beispiellos für die deutsche und internationale Fahrradindustrie sowie für die Fahrradwirtschaft insgesamt" [ZIV21a]. Besonders E-Bikes haben an Attraktivität gewonnen, ihre Verkaufszahlen lagen 2020 etwa 43 Prozent über dem Vorjahr. Damit setzt sich der positive Trend eines zunehmenden E-Bike-Besitzes fort. Ein steigender Anteil von Fahrrädern mit elektrischer Unterstützung am Modal Split bietet langfristig die Chance, auch längere Strecken ohne Pkw zurückzulegen. Durch die Schaffung und den flächenhaften Ausbau einer qualitativ hochwertigen, geräumigen und direkten Radinfrastruktur kann dem steigenden Bedarf begegnet und dieser gefördert werden.
![Abbildung 2: Verkauf von Fahrrädern und E-Bikes in Deutschland, 2019 bis 2021 (Angabe in Millionen Stück) [Eintrag-Id:543528] ZIV_Verkauf Fahrraeder E-Bikes Deutschland_Marktdaten2021.png](/servlet/is/553243/ZIV_Verkauf%20Fahrraeder%20E-Bikes%20Deutschland_Marktdaten2021.png)
Nach zuvor kontinuierlichem, jedoch verhältnismäßig langsamem Anstieg der Nachfrage konnte die Fahrradindustrie den pandemiebedingt sprunghaften Nachfrageboom nicht bewältigen. Es entstanden Lieferengpässe, die auf die pandemiebedingten Veränderungen an den Produktionsstandorten zurückzuführen waren. Weil die Produktionskapazitäten nicht kurzfristig ausgebaut werden konnten und Restbestände bereits verkauft waren, rechnete die Branche für bestimmte Fahrradmodelle, Ersatz- und Einzelteile auch mittelfristig noch mit starken Einschränkungen. [VSF21]
Trotz vermehrten Umstiegs auf den privaten Pkw erreichten die Neuzulassungen in den Pandemiejahren 2020 und 2021 nur kurzzeitig die Werte der Vorjahre (siehe Abbildung 3). Vor allem im Frühjahr 2020, parallel zur Einführung von Homeoffice und erstem Lockdown, brachen die Zahlen deutlich ein, erholten sich in den Sommermonaten aber schnell wieder. 2021 normalisierte sich die Entwicklung weitgehend, wenngleich noch immer deutlich weniger Fahrzeuge neu zugelassen wurden als in den Jahren vor der Pandemie. Ein besonderes Plus (41,4 Prozent) verzeichnete die Zulassung von Wohnmobilen. Diese Entwicklung ist sicher auch auf die zeitweise herrschenden Reise- und Flugbeschränkungen zurückzuführen. [KBA21d]
![Abbildung 3: Neuzulassungen von Personenkraftwagen im Jahresverlauf 2019 bis 2021 [Eintrag-Id:553177] KBA_Neuzulassungen 2019-2021_Pressemitteilung Nr. 01-2022.png](/servlet/is/553243/KBA_Neuzulassungen%202019-2021_Pressemitteilung%20Nr.%2001-2022.png)
Ähnlich dem ÖPNV erfahren wiederum Sharing- und Pooling-Anbieter pandemiebedingte Nachfrageeinbrüche. Da die Fahrzeuge vor allem in Innenstadtbereichen angeboten werden, machten sich hier der Wegfall von Reiseanlässen (touristisch, freizeitlich, Einkaufswege), aber auch allgemeine Hygienebedenken hinsichtlich gemeinschaftlich genutzter Verkehrsmittel in sinkenden Nutzerzahlen bemerkbar. Dies führte 2020 zur Reduzierung bis hin zur Einstellung der Angebote. In Hamburg und Berlin passten einzelne Pooling-Dienste vor allem in Corona-Hoch- und Lockdown-Phasen ihr Angebot an und boten individualisierte Fahrten für das Personal im Gesundheitswesen an. [AGOR20, S. 32]