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Pandemiepolitik im Resilienzkreislauf

Erstellt am: 05.06.2022 | Stand des Wissens: 05.06.2022
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Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch

Unter Resilienzkreislauf versteht man das Lernen aus vergangenen Krisen für den Fall zukünftiger Krisen, um diese verhindern oder ihre Folgen abmildern zu können. Auch im Verlauf der COVID-19-Pandemie selbst (seit Beginn 2020) konnten verschiedene Länder voneinander lernen über den Pandemieverlauf, die Gegenmaßnahmen und die Impfkampagnen.

Vor allem profitierte die Pandemie-Politik zu COVID-19 von den Erfahrungen aus früheren Pandemien. Vor dem Hintergrund der Spanischen Grippe 1918 bis 1919 lernte man in den 1940er Jahren die Bedeutung und Organisation der Grippeschutzimpfungen, die bis heute eine weitere Grippepandemie verhindert haben und ein Beispiel auch für andere Massenimpfungen darstellen. Die Spanische Grippe beflügelte auch die Notfallplanungen für Pandemien und in einigen Regionen, wie beispielsweise New York, den Einsatz von Hygienemaßnahmen. [Rosh13] Diese Maßnahmen spielten dann auch in der COVID-19-Politik eine entscheidende Rolle.

Zur Eindämmung der HIV/AIDS-Pandemie (seit den 1980er Jahren) wurden insbesondere Informations- und Präventionsprogramme entwickelt. Die Konfrontation mit den HIV-Kampagnen könnte die Empfänglichkeit der Bevölkerung für Informationen zu gesundheitlichen Risiken allgemein erhöht haben. Nach den kurzen Coronapandemien SARS 2001 und MERS 2012 versäumte man jedoch, diese als Warnungen aufzufassen und entsprechende Vorsorge zu treffen. Zum Beispiel hätte man Vorräte an medizinischen Atemmasken für die Bevölkerung aufbauen können, was jedoch unterblieb.

Im Sinne des Resilienzkreislaufs stellt sich die Frage: Was wird man aus der COVID-19-Pandemie für die Zukunft lernen?

Ohne Beispiel sind die im Zuge dieser Pandemie getroffenen administrativen Einschränkungen des allgemeinen zivilen und wirtschaftlichen Lebens. Die Erfahrungen mit diesen Maßnahmen und ihren medizinischen und gesellschaftlichen Auswirkungen werden in den kommenden Jahren ausgewertet und die Politik bei zukünftigen Pandemien stark beeinflussen. Dies bezieht sich auch auf die politischen Entscheidungsstrukturen und die konkreten Ausgestaltungen der Maßnahmen. [BMDV20b; Münc20] Gleichzeitig sind deutliche Fortschritte bei der Analyse der Infektionsketten und der Wirkung von Maßnahmen festzustellen. [MüCh21]

Ein Hauptproblem der Politik war die Schwierigkeit, gangbare Mittelwege zwischen drastischen Einschränkungen (Lockdowns) und den Lockerungen zu finden. Oft führten schon geringfügige Lockerungen zu massenhaften Bewegungen der Bevölkerung und in der Folge zu einem Anstieg der Infektionszahlen. Der Versuch, sachlich begründete Grenzen für selektiv wirkende Maßnahmen auszumachen und administrativ zu setzen (zum Beispiel das Verbot, Geschäfte unter einer bestimmten Verkaufsfläche zu öffnen), zog rasch Klagen nach sich. Die meisten Klagen wurden zwar abgewiesen, doch einige waren erfolgreich und oft wurden die Maßnahmen geändert, bevor es zur Verhandlung kam. [ZDF21a] Offenbar fehlte eine verlässliche gesetzliche Grundlage für die flexible Gestaltung selektiver Maßnahmen. Auch fehlten in Deutschland Erfahrungen mit selektiven Politiken. Dabei gibt es im Ausland einige Beispiele oder Ansatzpunkte für solche Politiken aus dem normalen Verkehrsmanagement. Zum Beispiel dürfen in einigen Großstädten, um dem allgemeinen Überfüllungsproblem Herr zu werden, nur alternierend Halter von Fahrzeugen mit geraden oder ungeraden Nummernschildern in die Innenstädte einfahren. [RPON15] In ähnlicher Weise wäre es denkbar, in einer Pandemie zum Beispiel den Besuch von Geschäften und Einkaufsstraßen alternierend von der Nummer des Personalausweises oder des Handys abhängig zu machen.

Alle Maßnahmen gegen die Pandemie zielen auf eine Reduzierung der Mobilität der Menschen, denn mit höherer Mobilität nimmt auch die Zahl der Begegnungen zu und das Virus kann sich besser ausbreiten. [HABL21] Demzufolge kann Verkehrsmanagement mit dem Ziel der Reduzierung und Lenkung von Verkehrsaktivitäten als ein Instrument der Pandemiepolitik eingesetzt werden. Diese Möglichkeit wurde bei der COVID-19-Politik zwar diskutiert [HaNe21], doch nur wenig genutzt. Vielmehr waren die Betreiber der öffentlichen Verkehrsmittel bemüht, ihr Angebot aufrechtzuerhalten, und verwiesen auf geringe nachgewiesene Infektionen in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Offenbar ging es darum, der Bevölkerung das Gefühl zu geben, dass die öffentlichen Infrastrukturen und Institutionen stabil weiter funktionierten. Ein anderer Ansatz wäre gewesen, öffentliche Verkehrsangebote gezielt zu reduzieren, ihre Nutzungsberechtigung zu rationieren und auch Straßen für den Individualverkehr zu sperren (zum Beispiel alternierend nach Stadtteilen). Allerdings gab es Verkehrsbeschränkungen zwischen verschiedenen Bundesländern, so im Frühsommer 2020 nach Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein, die in Verbindung mit Hotelschließungen die Urlaubsmobilität erfolgreich einschränkten.

Hinsichtlich der Digitalisierung zeigte sich während der COVID-19-Pandemie die Stärke internetbasierter Kommunikations- und Interaktionssysteme als Rückfallebene der gesellschaftlichen Interaktion. Gleichzeitig zeigten sich Probleme in allen Bereichen der Gesellschaft, in denen die Digitalisierung noch unzureichend fortgeschritten ist (so bei den kommunalen Verwaltungen und Schulen). Sehr hilfreich wäre eine stärkere Nutzung digitaler Medien bei der Kontaktnachverfolgung von Infizierten und der Überwachung von Quarantänevorschriften gewesen, wie es in einigen asiatischen Ländern praktiziert wurde [Seif21], sowie auch bei der Steuerung und Durchsetzung selektiver Maßnahmen. Für zukünftige Krisenfälle wird man daher die allgemeine Digitalisierung noch stärker forcieren als bisher schon und hierbei insbesondere auch ein zukünftiges Krisenmanagement mitberücksichtigen. Je stärker sich allerdings eine Gesellschaft in Krisenfällen auf digitale Systeme verlässt, desto anfälliger wird sie gegenüber Cyber-Angriffen während einer Krise. Daher sollten parallel zu den digitalen Fähigkeiten auch nicht-digitale Handlungsfähigkeiten als Rückfalloption gezielt mitentwickelt werden.

Die Entscheidungsstrukturen der Pandemie-Politik wurden kontrovers diskutiert. [DeBu21a] Bis zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes (Notbremse) im April 2021 verzichtete der Bund im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach Artikel 74 Absatz 1 Nummer 19 Grundgesetz darauf, die Kompetenzen an sich zu ziehen [DeBu21], so dass die Politik nur in regelmäßigen Bund-Länder-Gesprächen koordiniert wurde, deren Beschlüsse nicht bindend waren. Während regionale Differenzierungen der Maßnahmen aufgrund der regional unterschiedlichen Gefährdungslagen begründbar sind, bleibt doch die Tatsache, dass es bei einer Pandemie um externe Effekte geht: Nimmt in einem Land die Zahl der Infizierten zu, sind nicht nur die Menschen in dem Land, sondern auch die in den Nachbarländern stärker gefährdet. Dies spricht für eine stärkere Koordination und Vereinheitlichung der Politik über Landesgrenzen hinweg.[Röme21; Münc20] Auch kann man fragen, ob jedes Bundesland über die nötige Expertise verfügt, eine Pandemie zu steuern. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Information der Bevölkerung zum großen Teil über bundesweite Medien erfolgt und länderspezifische Besonderheiten dort nicht gut kommuniziert werden können.

Auch auf europäischer Ebene stellte sich das Problem der Externalitäten und der mangelnden Koordination, da die Verläufe der Pandemie und die politischen Herangehensweisen zwischen Nachbarstaaten teils stark variierten. [IGES21] Im Sinne des Resilienzkreislaufs ist zu erwarten, dass die politischen Entscheidungsstrukturen bei Krisenfällen sowohl innerhalb Deutschlands als auch innerhalb der Europäischen Union in den kommenden Jahren überarbeitet werden. [Münc20] So hat die Kommission der Europäischen Union im Juni 2021 einen Zehn-Punkte-Plan zur Erhöhung der Reaktionsfähigkeit der Europäischen Union auf Pandemien verabschiedet. [EuKo21a]

Der Resilienzkreislauf war auch bei der wirtschaftspolitischen Handlungsfähigkeit der Bundesregierung während der COVID-19-Pandemie wirksam, denn diese profitierte stark von den Erfahrungen der Finanzkrise 2008. Dadurch gab es von Anfang an ein richtiges Verständnis von der Dimension und Dringlichkeit der zu ergreifenden wirtschaftlichen Maßnahmen, auch in Bezug auf die Verhandlungen auf der europäischen Ebene.

Das altbewährte konjunkturpolitische Instrument des Kurzarbeitergeldes erwies sich auch in der Pandemie als besonders wirksam und praktikabel, um Beschäftigte vor Entlassungen oder Lohnkürzungen zu schützen und um die Unternehmen in einem Moment des Zusammenbruchs der Ein- und Verkaufsmärkte von ihren fixen Lohnverbindlichkeiten zu entlasten. Eine vergleichbare Entlastung der Unternehmen von anderen fixen Verbindlichkeiten (wie Mieten und Kredite) wurde jedoch nicht vorgenommen; hier beschränkte man sich auf Zahlungsmoratorien, ohne die Verbindlichkeiten zu reduzieren oder zu übernehmen (zu Mieten siehe auch [Rais22]). Die größten Probleme bereitete die Stabilisierung von kleinen, mittleren und Kleinstunternehmen, bis hin zu Solo-Selbständigen. Viele dieser Unternehmen sind in den besonders betroffenen Branchen tätig, darunter auch in solchen Branchen (wie Einzelhandel, Gastronomie, Friseure, die Fitness- oder Eventbranche), die in normalen Wirtschaftskrisen nicht direkt getroffen werden, sondern eher stabil sind und über die allgemeine makroökonomische Stabilisierungspolitik (sowie die Stabilisierung der Großunternehmen) indirekt stabilisiert werden. Im Falle einer Pandemie sind sie aber spezifisch und direkt betroffen. [LaVa21] Um sie ausreichend zu stabilisieren, gab es kein Vorbild und kein erprobtes Instrumentarium. [KrGr20] Dieses Manko war sicherlich eine Ursache für die Unzufriedenheit mit den Einschränkungen und für den andauernden politischen Druck in Richtung auf Lockerungen, der dann oft insbesondere auf Landes- und kommunaler Ebene erfolgreich war und dem Virus wieder in die Hände spielte. [HDE21b] Ein solches Instrumentarium sollte daher für das Management zukünftiger Krisen geschaffen werden.
Ansprechpartner
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Auswirkungen von Pandemien auf Mobilität und Verkehr (Stand des Wissens: 09.08.2022)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?553478
Literatur
[BMDV20b] Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.) Folgerungen für die zukünftige Verkehrspolitik nach den Erfahrungen und dem Umgang mit der COVID-19-Pandemie, 2020
[DeBu21] Deutscher Bundestag (Hrsg.) Zur Kompetenzfrage von Bund und Ländern in der Rechtsetzung beim
Infektionsschutz
, 2021
[DeBu21a] Deutscher Bundestag (Hrsg.) Heftiger Streit über neues Bevölkerungs­schutzgesetz, 2021
[EuKo21a] Europäische Kommission (Hrsg.) EU-Kommission zieht Lehren aus der Coronavirus-Pandemie, 2021
[HABL21] Handelsblatt GmbH (Hrsg.) RKI-Chef Wieler: Mobilität ist Treiber von Pandemien, 2021/01
[HaNe21] Kevin Hagen, Emil Nefzger, Jörg Römer, Nils-Viktor Sorge So hart würde Deutschland ein Stopp für Busse und Bahnen treffen, 2021
[HDE21b] Handelsverband Deutschland (Hrsg.) Beschlüsse des Corona-Gipfels: Handel kritisiert Corona-Politik und fordert Öffnung der Geschäfte, 2021
[IGES21] IGES Institut GmbH (Hrsg.) Incidence rate of COVID-19 cases in Europe, 2021/04
[KrGr20] Alexander S. Kritikos, Daniel Graeber, Johannes Seebauer Corona-Pandemie wird zur Krise für Selbständige, 2020
[LaVa21] Jona van Laak, Farid Vatanparast Die Corona-Pandemie als ordnungsökonomische Herausforderung und Beschleuniger von Change-Prozessen im Mittelstand, 2021
[MüCh21] Sebastian Alexander Müller, William Charlton,Natasa Djurdjevac Conrad, Ricardo Ewert, Christian Rakow, Hanna Wulkow, Tim Conrad, Christof Schütte, Kai Nagel MODUS-COVID Bericht vom 16.07.2021, 2021
[Münc20] Ursula Münch Wenn dem Bundesstaat die Stunde der Exekutive schlägt: der deutsche (Exekutiv-)Föderalismus in Zeiten der Coronakrise, 2020
[Rais22] Christian Raiser BGH ermöglicht Anpassung der Gewerbemiete bei Geschäftsschließung in der Pandemie, 2022
[Röme21] Jörg Römer Forscher mahnen zu niedrigen Inzidenzen überall in Europa, 2021
[Rosh13] Natascha Roshani Beschleuniger der Moderne
Wie die Spanische Grippe die Welt veränderte, 2013
[RPON15] rp-online (Hrsg.) Es wird nicht wirklich hell, 2015/12
[Seif21] Thomas Seifert Corona-Experte: Die Menschen sagen nicht die Wahrheit, 2021
[ZDF21a] Nils Metzger Maßnahmen-Gegner vor Gericht kaum erfolgreich, 2021
Glossar
SARS Bei dem Severe Acute Respiratory Syndrome handelt es sich um eine Atemwegserkrankung.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?552735

Gedruckt am Freitag, 29. März 2024 01:28:07