Langfristige Auswirkungen von Pandemien auf Wirtschaft und Gesellschaft
Erstellt am: 05.06.2022 | Stand des Wissens: 05.06.2022
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Eine Pandemie kann Wirtschaft und Gesellschaft langfristig verändern, auch weit über das Ende der akuten Pandemie hinaus. Bei der COVID-19-Pandemie gibt es neben den Todesopfern viele erkrankte Menschen, die auch nach Überwindung der Infektionserkrankung noch unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu leiden haben (long covid). Einer Studie aus Norwegen zufolge wiesen über 60 Prozent der Patienten, die an COVID-19 erkrankt waren, sechs Monate nach der Erkrankung immer noch anhaltende Symptome auf. So litten 25 Prozent der Probanden an Geruchs- und Geschmacksverlust, 37 Prozent unter Fatigue (Müdigkeit), 21 Prozent unter Dyspnoe (Atemnot), 26 Prozent unter Konzentrationsstörung und 24 Prozent unter Gedächtnisstörungen. [BlMo21]
Eine längere Krisensituation kann bei vielen Menschen zu psychologischen Langzeitfolgen oder psychischen Erkrankungen führen, wobei ausschlaggebend ist, wie lange ein Mensch der zusätzlichen Belastung ausgesetzt ist. COVID-19-Erkrankte, die isoliert von anderen Patienten behandelt wurden, wiesen im Vergleich zu Patienten mit einer normalen Lungenentzündung erhöhte Angst- und Depressionswerte auf. Ähnliche psychische Folgen konnten bei Menschen, die sich in Quarantäne befanden, festgestellt werden. Die Schließung von Kindertagesstätten und Schulen als Maßnahme zur Eindämmung von COVID-19 wirkte sich ebenfalls negativ auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen aus. So zeigte fast jedes dritte Kind während der zweiten Welle psychische Auffälligkeiten. [UKE21]
Befürchtet wird eine langfristige Destabilisierung der demokratischen Zivilgesellschaft und Vertrauensverlust gegenüber den politischen Institutionen im Zuge der COVID-19-Pandemie. Gesellschaftliche Spannungen werden durch den gespreizten Charakter dieser Pandemie gefördert: Der Großteil der Erkrankungen verläuft sehr harmlos, aber die nicht harmlosen können sehr schwerwiegend verlaufen, mit hohem Behandlungsaufwand, aber ohne wirkliche Behandlungsmöglichkeit, mit starkem Leid und dramatischen Folgen für die schwer Erkrankten. (Interessanterweise zeigte sich eine ähnliche Spreizung bei den Nebenwirkungen einiger Impfstoffe, jedoch mit wesentlich geringeren Wahrscheinlichkeiten für die schweren.) Zudem sind die Risiken schwerer Verläufe einerseits und die Betroffenheit durch die Maßnahmen andererseits in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt, zum Beispiel nach Alter. Dies eröffnet viel Stoff für Diskussionen und unterschiedliche Standpunkte. [TSCH21] Die drastischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mussten jedoch sehr schnell getroffen und umgesetzt werden, ohne dass ihre Alternativen und ihre Kosten-Nutzen-Relationen sorgfältig ermittelt und eine politische Diskussion darüber geführt werden konnten. Während dies bei vielen Menschen auf Verständnis und Zustimmung traf, betrachteten andere die Maßnahmen als verfehlt, sahen sie als Dammbruch für eine künftige Einschränkung von Menschenrechten, waren empört, oder fühlten sich überrumpelt, übergangen und gegebenenfalls besonders benachteiligt. Dies kann auch nach dem Ende der Pandemie zu langfristigen Ressentiments gegenüber den politischen Institutionen führen. In dem Zusammenhang war auch eine Ausbreitung von Irrationalitäten und Verschwörungstheorien in der Bevölkerung festzustellen. [HBS20; BPB20]
Auf der anderen Seite bestand die Gefahr, dass die demokratischen Gesellschaften im Angesicht der Krise als nicht handlungsfähig wahrgenommen werden. Auch dies hätte und hat bei einigen Menschen das Vertrauen beschädigt. Bei den meisten Deutschen hat der erneute Lockdown im Dezember 2020 Zustimmung gefunden (69 Prozent hielten die Maßnahmen für angemessen und für 16 Prozent der Deutschen gingen die Maßnahmen nicht weit genug). [LPB21]
Die COVID-19-Pandemie hat zu einem Digitalisierungsschub in Wirtschaft und Gesellschaft geführt. Schon vor der Coronakrise wurde von den Arbeitgebern vermehrt auf Arbeiten im Homeoffice gesetzt, durch die Coronakrise nahm das Arbeiten von Zuhause jedoch sprunghaft zu. So gaben im Januar 2021 circa 24 Prozent der Teilnehmer einer Befragung der Hans-Böckler-Stiftung an, überwiegend oder ausschließlich im Homeoffice zu arbeiten. [HBS21a] Ebenfalls lässt sich eine gesteigerte Nutzung von Software für digitale Meetings erkennen. [Klös20] Langfristig können mobile Arbeit und Videokonferenzen Einfluss auf die Arbeitswelt [Demm21] sowie das Geschäftsreise- und Pendlerverhalten haben, mit möglichen Folgen für die Wahl von Wohnort und Arbeitsplatz und für die Verkehrsbelastungen. [BMDV20a]
Die möglichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den wirtschaftlichen Strukturwandel und damit auf die langfristige volkswirtschaftliche Produktivität und das Wirtschaftswachstum sind vielfältig, teils gegenläufig und in der Gesamtheit noch nicht einzuschätzen. Der beschriebene Digitalisierungsschub beschleunigt einen aktuellen Strukturwandel und fördert damit das langfristige Wachstum. Eine Beschleunigung tritt auch dann ein, wenn Unternehmen, die vorher schon mit Schwierigkeiten kämpften, von der Pandemie besonders betroffen sind und dadurch früher schließen. Andererseits haben die staatlichen Stabilisierungsmaßnahmen, zum Beispiel die Aussetzung der Insolvenzpflicht, sicherlich auch solche Unternehmen am Leben erhalten, die ohne Pandemie in Schwierigkeiten geraten wären und hätten schließen müssen. [Müll21a] Doch werden einige Unternehmen, die Unterstützung bekommen haben, diese Mittel und die besondere Situation auch genutzt haben, um interne Umstrukturierungen voranzutreiben, was den Strukturwandel wiederum beschleunigt. Ein Beispiel hierfür könnte die Deutsche Lufthansa sein, die vom Bund etwa neun Milliarden Euro Unterstützung erhielt [ZEON20], was jedoch wiederum wettbewerbspolitische Bedenken aufwirft.
Einen produktivitäts- und wachstumsmindernden Einfluss kann die entstandene Ausbildungslücke bei vor allem jungen Menschen nach sich ziehen. [ZDF21] Ein positiver Effekt kann hingegen dadurch entstehen, dass der Digitalisierungsschub die geburtenstarken Jahrgänge der 50er und 60er Jahre noch in ihrer im Beruf aktiven Zeit erfasst hat. Die Digitalisierung fand auch außerhalb der Arbeitswelt Einzug, beispielsweise bei Senioren, um mit ihrer Familie in Kontakt bleiben zu können. [ZEON22] Sie sind dadurch womöglich auch besser vorbereitet, ihre Versorgung im hohen Alter durch digitale Anwendungen (wie Smarthome, Assistenztechnologien, Telepflege, Heimroboter, Telemedizin [GKV19; McKCo20]) zu organisieren oder organisieren zu lassen, was zu einer Entlastung der ganzen Gesellschaft und insbesondere der heute Jungen führen wird. [BMFSFJ220]
Auch die mittelfristigen makroökonomischen Auswirkungen der Pandemie nach ihrem Ende sind schwer vorherzusehen. Einige Faktoren sprechen dafür, dass sich während der COVID-19-Pandemie ein gewisses Inflationspotenzial aufbaut. Zu nennen ist insbesondere die sehr großzügige Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) in Verbindung mit den hohen Staatsverschuldungen aller Staaten der Europäischen Union (EU). So beschloss die EZB einen Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte von 0,0 Prozent, in Verbindung mit einem Pandemie-Notfallankaufprogramm im Umfang von zunächst 500 Milliarden Euro, welches später auf 1.850 Milliarden Euro erweitert wurde. [EZB20] Parallele Entwicklungen gibt es in den USA und anderen Ländern der Welt. Mit den großzügigen Geld-, Fiskal- und Unterstützungspolitiken sollten die Zahlungsfähigkeiten der wirtschaftlichen Akteure aufrechterhalten werden, um das Geflecht der langfristigen Vertragsbeziehungen, das die Grundlage wirtschaftlichen Handelns bildet, vor einem Zusammenbruch zu bewahren. Durch den gleichzeitigen Einbruch der realen Wirtschaftsaktivität tat sich damit jedoch tendenziell eine Schere zwischen realer und geldlicher Sphäre auf, die das Inflationspotenzial bildet.
Über die makroökonomischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie berichtet der Internationale Währungsfonds regelmäßig auf einer besonderen Internetseite. [IMF22] In einer Studie [EbIg20] wird das Inflationspotenzial mit seinen vielen Faktoren diskutiert. Preistreibend könnten sich ein möglicher Nachholbedarf beim Konsum und mögliche Engpässe bei der Produktion aufgrund von Firmenzusammenbrüchen und anderen Faktoren auswirken. Dem stehen jedoch preisdrückende Faktoren gegenüber (die auch eine genuine Rezessionsgefahr im Anschluss an die Pandemie bergen), so insbesondere die reduzierte Nachfrage all derer, die durch die Pandemie nachhaltig wirtschaftlich geschwächt wurden.
Ein entscheidender Faktor sind ferner die Inflationserwartungen in einer Ökonomie. Wenn das Inflationspotenzial zutage tritt, besteht vor allem die Gefahr, dass die Inflation später bekämpft werden muss und in der Folge eine Nach-Pandemie-Rezession oder -Krise entsteht. Verstärkt würde eine solche Krise durch die hohen Staatsverschuldungen und die wirtschaftlichen Verwerfungen innerhalb der EU. Es kann aber auch gut ausgehen, wenn etwa das Inflationspotenzial nur kurzzeitig wirksam wird (sogenannter Preisniveauschub), ohne dass sich ein Inflationsprozess mit steigenden Inflationserwartungen aufbaut, und wenn längerfristig die Staatverschuldungsquoten durch ein hohes wirtschaftliches Wachstum wieder zurückgehen. Im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie zeigten Indikatoren der Inflationserwartung Mitte 2020 keinen klaren Aufwärtstrend.