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Kurzfristige Effekte von Pandemien auf Wirtschaft und Gesellschaft

Erstellt am: 05.06.2022 | Stand des Wissens: 05.06.2022
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch

Eine Pandemie und die im Zusammenhang mit ihr ergriffenen Maßnahmen belasten die ganze Wirtschaft und Gesellschaft sowie auch jeden einzelnen Menschen, jede Familie und jeden Betrieb.

Das Gesundheitssystem (Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, Apotheken, Krankentransportunternehmen und auch Pflegedienste [DEFU20; VERDI20a]) war in der COVID-19-Pandemie starken Belastungen ausgesetzt, und das Vermeiden einer Überlastung war von besonderer Bedeutung, auch für die Wahl der politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Überlastungen des Gesundheitssystems konnten im Ausland beobachtet werden, so in den Städten Wuhan (China), Bergamo (Italien) und New York (USA) sowie in den Ländern Brasilien und Indien.
Schon am Beispiel der Hongkong-Grippe 1968 bis 1970 zeigte sich, welche Auswirkungen es hat, wenn systemrelevante Funktionen nicht mehr ausreichend abgedeckt werden können. Zum Zeitpunkt der zweiten Welle gab es nicht mehr genügend Impfstoff, Kliniken erließen Aufnahmestopps, niedergelassene Ärzte konnten keine flächendeckende Versorgung gewährleisten und es fehlte an Personal für Notfälle bei Feuerwehr, Polizei und Rettungsdiensten. [Domb11]
In der COVID-19-Pandemie waren in Deutschland Branchen der Wirtschaft unterschiedlich betroffen. Während der Online-Handel, Lieferdienste oder Streaming-Anbieter einen regelrechten Boom erlebten, waren die Gastronomie, Kulturangebote (außer den internetbasierten), die Veranstaltungs- und Messebranche sowie Tourismus und Hotellerie besonders stark negativ betroffen. [BDU20] Auch der Einzelhandel wurde mit Ausnahme von Anbietern von Waren des täglichen Bedarfs, wie Lebensmittelhändler und Drogerien, weitgehend lahmgelegt. [HDE20] Schulen, Kindertagesstätten und Universitäten stellten zeitweise ihren Präsenzbetrieb ein. Viele Unternehmen, Schulen und insbesondere Behörden stellten fest, dass ihre digitalen Infrastrukturen unzureichend ausgebaut waren.
Mit den möglichen gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen einer Pandemie befasste sich eine Studie aus dem Jahr 2007 anlässlich der damals bedrohlichen Vogelgrippe. [ALLI06] Mit Blick auf verschiedene Modellrechnungen anderer dort genannter Autoren werden als wichtigste Risikofaktoren genannt: (i) ein Einbruch des Konsums aufgrund der allgemeinen Unsicherheit, (ii) eine Reduktion des Arbeitsangebots aufgrund von Krankheits- und Todesfällen und als Reaktion auf die Infektionsgefahr und (iii) staatlich verordnete Einschränkungen zur Infektionseindämmung (im Extremfall bis zum Stopp sämtlicher internationaler Handelsverbindungen). Dem stehen allerdings laut der Studie staatliche Stabilisierungsmaßnahmen für die Wirtschaft gegenüber. Die Studie berichtet auch über verschiedene, recht stark divergierende Vorhersagen zum volkswirtschaftlichen Schaden einer Pandemie (konkret der damaligen Vogelgrippe) und über die grundsätzlichen Probleme und Unsicherheiten solcher Vorhersagen.
Die in der Studie genannten Faktoren beschreiben die Auswirkungen der späteren COVID-19-Pandemie recht gut. Nachdem die Pandemie in Deutschland Mitte März 2020 ausbrach, ging das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten Quartal drastisch um 9,7 Prozent gegenüber dem ersten Quartal zurück (siehe Abbildung 1). Das ist der stärkste Rückgang seit Durchführung der vierteljährlichen BIP-Berechnungen für Deutschland im Jahr 1970. [DEST21j] In der Europäischen Union brach das preisbereinigte BIP im zweiten Quartal 2020 im Vergleich zum Vorquartal um 11,2 Prozent ein. Weltweit betrug der entsprechende Einbruch circa 7,8 Prozent. [BMWK20] Das BIP stieg im zweiten Quartal 2021 erstmals wieder seit dem Beginn der Coronapandemie (siehe Abbildung 1).
Bruttoinlandsprodukt.pngAbb. 1: Bruttoinlandsprodukt (Quartal), Rechenstand: 25.11.21, Quelle: Statistisches Bundesamt. [DEST22f] (Grafik zum Vergrößern bitte anklicken)
Über das ganze Jahr 2020 betrachtet ging in Deutschland das preisbereinigte BIP um 4,9 Prozent gegenüber 2019 zurück. Die Konsumausgaben von privaten Haushalten gingen um 4,6 Prozent zurück [DEST21k] und auch die Reallöhne sanken um 1 Prozent [DEST21l]. In beiden Fällen sind dies die stärksten Rückgänge seit Jahrzehnten, insbesondere auch stärker als nach der Finanzkrise von 2008. Im Jahr 2020 wurden 9,4 Prozent weniger neue Ausbildungsverträge abgeschlossen als im Jahr zuvor. [DEST21m] Zu Beginn der Pandemie hatte man allerdings teilweise mit noch stärkeren Auswirkungen auf die Wirtschaft gerechnet. [VERDI20b] Sowohl die Konsumausgaben als auch die Reallöhne sanken leicht im Jahr 2021 gegenüber 2020 [DEST22h]. Der Rückgang der Konsumausgaben lässt sich hauptsächlich auf den Lockdown Anfang 2021 zurückführen, wodurch die Konsumausgaben insgesamt 5 Prozent unter dem Vorkrisenniveau lagen. Mit zunehmenden Lockerungen gaben die Bürger allerdings wieder mehr Geld aus. [DEST22i]

Die Staatshilfen zur Bewältigung der Coronakrise kosteten Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen (einschließlich Steuer- und Beitragsmindereinnahmen) in den Jahren 2020 und 2021 rund 750 Milliarden Euro, zu denen noch ein staatlicher Garantierahmen bis zu 833 Milliarden Euro hinzukam. [BMWK21c] Zum Vergleich: Die fiskalischen Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 für den Bund betrugen in den Jahren 2009/2010 schätzungsweise 187 Milliarden Euro; hinzu kam ein staatlicher Garantierahmen für die Banken von 646 Milliarden Euro. [DöGe13]

Die deutsche Gesellschaft hat sich zu Zeiten der COVID-19-Pandemie an starke Einschränkungen und Anpassungen gewöhnen müssen. Bei den 18- bis 39-Jährigen fühlten sich 59 Prozent sehr stark oder stark durch den Lockdown im Januar 2021 belastet. Bei den 40- bis 64-Jährigen waren es 49 Prozent. Aus der Gruppe der über 65-Jährigen fühlten sich immer noch 37 Prozent der Befragten stark oder sehr stark durch die Einschränkungen belastet. [INDI21] Im Juli 2020 hatten sich 79 Prozent der Deutschen an die Maskenpflicht gewöhnt. [LPB21]

Für viele Menschen stellte die COVID-19-Pandemie eine beispiellose Stresssituation dar. [BeEi21; HBS21] So litten Kinder und Jugendliche unter der Schließung von Kindertagesstätten und Schulen, da wichtige soziale Kontakte wegfielen. [MDR22] Viele Eltern arbeiten seit dem Beginn der Pandemie von Zuhause (Homeoffice), während die Kinder ebenfalls den Schulunterricht von Zuhause besuchen (Homeschooling). Viele Eltern empfanden das gleichzeitige Homeschooling und Homeoffice als eine Doppelbelastung. [TASP21] Die Internetanbindungen vieler privater Haushalte waren einer so intensiven Nutzung in einer solchen Ausnahmesituation nicht gewachsen, was zu Problemen bei der Arbeit von Zuhause führte. [TASP20] Hinzu kommen wirtschaftliche Sorgen. Viele Menschen haben finanzielle Einschnitte erlebt, wobei besonders Menschen mit einem niedrigeren Einkommen betroffen waren [FAZ20], und die Zukunft vieler Unternehmen und Arbeitsplätze war bedroht.

Das Bevölkerungswachstum in Deutschland stagnierte im Jahr 2020 zum ersten Mal seit 2011, da die Geburten gegenüber 2019 leicht zurückgegangen sind und die Sterberate merklich gestiegen ist. Außerdem war die Nettozuwanderung geringer als im Jahr 2019.

Publikationen

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Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Auswirkungen von Pandemien auf Mobilität und Verkehr (Stand des Wissens: 09.08.2022)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?553478
Literatur
[ALLI06] Allianz Private Krankenversicherungs-AG , RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.) Pandemie Risiko mit großer Wirkung, 2006
[BDU20] Bundesverband Deutscher Unternehmensberater (Hrsg.) Die Gewinner und die Verlierer der Corona Krise Eine Bilanz, 2020
[BeEi21] Robert Bering, Christiane Eichenberg (Hrsg.) Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise, Klett-Cotta, 2021
[BMWK20] Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (Hrsg.) Weltwirtschaft, 2020
[BMWK21c] Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (Hrsg.) Schlaglichter der Wirtschaftspolitik Im Fokus: Corona-Krise im Vergleich, 2021
[DEFU20] DeutschlandFunk (Hrsg.) Lehren für Medizin und Pflege in Deutschland, 2020
[DEST21j] Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Die Folgen der Corona-Pandemie in 10 Zahlen, 2021
[DEST21k] Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Konsumausgaben der privaten Haushalte 2020 deutlich zurückgegangen, 2021
[DEST21l] Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Reallöhne im Jahr 2020 um 1,0 % gegenüber 2019 gesunken, 2021/04/01
[DEST21m] Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Zahl der neuen Ausbildungsverträge im Jahr 2020 um 9,4 % gesunken, 2021
[DEST22f] Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Dashboard VGR Bruttoinlandsprodukt (Quartal) , 2022/04/01
[DEST22h] Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Reallöhne im Jahr 2021 um 0,1 % gegenüber 2020 gesunken, 2022/03/24
[DEST22i] Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Konsumausgaben der privaten Haushalte 2021 noch 5 % unter Vorkrisenniveau, 2022/03/15
[DöGe13] Döhrn, Roland; Gebhardt, Heinz Die fiskalischen Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise, veröffentlicht in IBES DISKUSSIONSBEITRAG Nr. 198, 2013
[Domb11] Wolf R. Dombrowsky Pandemien als Herausforderung für die Rechtsordnung, Ausgabe/Auflage Band 4, 2011
[FAZ20] Frankfurter Allgemeine Zeitung (Hrsg.) Sorgen um eigene wirtschaftliche Lage wachsen, 2020
[HBS21] Andreas Hövermann Belastungswahrnehmung in der Corona-Pandemie: Erkenntnisse aus vier Wellen der HBS-Erwerbspersonenbefragung 2020/21, 2021
[HDE20] Handelsverband Deutschland (Hrsg.) Auswirkungen der Coronavirus-Krise auf den Einzelhandel: Viele Handelsunternehmen leiden unter sinkender Kundennachfrage, 2020
[INDI21] Infratest dimap (Hrsg.) Corona-Pandemie: Belastung durch Einschränkung, 2021
[LPB21] Wie verändert Corona unsere Gesellschaft?, 2021
[MDR22] Mitteldeutschter Rundfunk (Hrsg.) Psychische Belastung von Kindern in der Corona-Pandemie: Was Eltern wissen müssen, 2022
[TASP20] Paul Dalg In der Coronakrise rächt sich der lahmende Netzausbau, 2020/03/24
[TASP21] Sven Lemkemeyer, 40 Prozent der Eltern fällt die Doppelbelastung schwer, 2021
[VERDI20a] Ver.di (Hrsg.) Rettungskräfte in vorderster Linie, 2020
[VERDI20b] Ver.di (Hrsg.) Die Corona-Pandemie und ihre Folgen, 2020
Glossar
Bruttoinlandsprodukt
"Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist ein Maß für die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum. Es misst den Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen (Wertschöpfung), soweit diese nicht als Vorleistungen für die Produktion anderer Waren und Dienstleistungen verwendet werden." (Quelle: Statistisches Bundesamt)

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?552725

Gedruckt am Donnerstag, 28. März 2024 21:22:28