Mobilitätsnachfrage in Krisen
Erstellt am: 26.11.2021 | Stand des Wissens: 17.01.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
In diesem Synthesebericht wird die Situation beschrieben, wenn noch keine Evakuierung erfolgt ist. Die Mobilitätsnachfrage in Krisen unterscheidet sich oft von der Mobilitätsnachfrage im Alltag. Dabei haben persönliche und äußere Umstände im Alltag einen vorbestimmenden Einfluss darauf, wie stark und in welcher Art sich die individuelle Krisenmobilität von der Alltagsmobilität unterscheidet.
Auswirkungen auf Nachfragerseite können anhand verschiedener Mobilitätskennzahlen im innerstädtischen, regionalen und überregionalen Verkehr abgelesen werden, beispielsweise am Verkehrsaufkommen, an der Zielwahl und am Modal Split sowie an der Bedeutung der unterschiedlichen Wegzwecke, aber auch an der Verkehrsleistung und Mobilitätszeit.
Im Alltag legt eine Person in Deutschland zwischen 3 und 4 Wege pro Tag zurück. [IFV20, S. 123] Im Krisenfall sind hier Abweichungen möglich, zudem sind Verschiebungen in der Bedeutung von Wegzwecken und damit Veränderungen in der Zielwahl zu beobachten. Die konkreten Auswirkungen unterscheiden sich personengruppenspezifisch.
Eine Verringerung der Anzahl an Wegen kann bei mobilitätseingeschränkten Personen beobachtet werden, die im Alltag bereits relativ wenige Wege zurücklegen. In anderen Personengruppen ist eine Erhöhung der Anzahl der Wege zu sehen, so zum Beispiel bei Schaulustigen, aber auch, wenn es im sozialen Umfeld hilfsbedürftige Personen gibt. Auch durch den Einsatz als freiwilliger Helfer können sich neue Wege ergeben. Im Jahr 2018 waren allein bei der Freiwilligen Feuerwehr fast 1 Million Menschen in Deutschland aktiv. [DFV19] Ein dämpfender Effekt auf das Verkehrsaufkommen ergibt sich durch den Wegfall oder die zeitliche Verschiebung von nicht dringenden oder notwendigen Wegen. Dies gilt hauptsächlich für private Reisen, aber auch für Geschäftsreisen.
Es konnte auch bereits beobachtet werden, wie sich durch Maßnahmen des Krisenmanagements das Verkehrsaufkommen in Krisen verändert. Zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland im März 2020 wurden im Rahmen des sogenannten Lockdowns Schulen und Kindergärten geschlossen, sodass Bring- und Hol- beziehungsweise Ausbildungswege weniger wurden. Auch der Aufruf zu vermehrter Arbeit von zu Hause aus führte zu einem Rückgang im Verkehrsaufkommen.
Die Zielwahl ist besonders stark von der räumlichen Ausbreitung eines Ereignisses abhängig. Die Ausbreitung stellt einen vorentscheidenden Faktor dar für die Erreichbarkeit von Zielen. Durch Krisen kann sich die im Alltag vorherrschende Bedeutung von Wegzwecken und damit von Zielen verändern. Ist ein Haushalt durch ein Hochwasser betroffen, steigen die Anteile an Besorgungswegen in diesen betroffenen Personengruppen im Vergleich zum Alltag, während der Anteil der Freizeitwege fällt. Hierdurch ergeben sich entsprechende Verschiebungen hinsichtlich der angesteuerten Ziele.
Grundsätzlich spielt sich die Mobilität in Krisensituationen eher im Nahbereich ab, während der Regional- und Fernverkehr rückläufig ist. Ein Grund ist, dass sich die Bedeutung der Wegzwecke verändert: Fernverkehrswege sind in der Regel dem Freizeit- oder dem Arbeitszweck zuzuordnen und der Anteil dieser beiden Wegzwecke wird geringer, während der Anteil an Besorgungswegen ansteigt, die meist im Nahbereich stattfinden.
Die Wahl des Verkehrsmittels ist in erster Linie von der Nutzbarkeit der Verkehrsmittel und der Verkehrswege abhängig. Ein bestimmtes Verkehrsmittel ist nutzbar, wenn ein fahrtüchtiges Fahrzeug und eine intakte Verkehrsinfrastruktur vorhanden sind. In die Entscheidungsfindung spielen einerseits die Kosten und Dauer, die mit der Benutzung eines Verkehrsmittels einhergehen, hinein. Andererseits beeinflussen aber auch subjektive Aspekte, beispielsweise die gefühlte Sicherheit unterschiedlicher Verkehrsmittel die Entscheidung.
Die gewählte Route ist eng mit dem gewählten Verkehrsmittel und dem ausgewählten Ziel verknüpft. Sie spielt vor allem bei der Nutzung von individuellen Verkehrsmitteln (zu Fuß gehen, Fahrrad fahren oder Pkw fahren) eine Rolle. Darüber hinaus sind Ortskenntnis, Auslastung und Nutzbarkeit der Routen entscheidend. Mangelnde Ortskenntnis oder fehlende Erfahrungswerte zur Auslastung von Strecken können im Alltag durch Navigationsgeräte kompensiert werden. Darüber hinaus können diese auch vor akuten Gefahren warnen, sofern sie über die entsprechende Funktionalität verfügen. Daher spielt die Beschilderung in Ausnahmesituationen eine besondere Rolle. Aufgrund der hohen Redundanz innerhalb der Straßenverkehrsnetze ist eine grundsätzliche Erreichbarkeit bestimmter Ziele oft gegeben, solange nicht das Ziel selbst von einer Katastrophe betroffen ist. Schwieriger ist es im Schienenverkehr, der geringere Redundanzen auf Netzebene aufweist [DWD20, S.32].