Effekte in Netzen: Exposition, Robustheit, Verstärkung, Stabilisierung
Erstellt am: 25.11.2021 | Stand des Wissens: 17.01.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
In Infrastrukturen und anderen Netzen haben örtlich auftretende Störungen durch extreme Ereignisse Fernwirkungen zur Folge. Analog zu Wellen im Wasser können sich Störimpulse durch die Netz-Interdependenzen aufschaukeln (Kaskadeneffekte) und insbesondere an Engpassstellen des Netzes verstärkte Auswirkungen erzeugen, manchmal auch weit vom Ort des ursprünglichen Ereignisses entfernt. Andererseits kann ein Netz auch wie ein Sicherheitsnetz wirken, indem es einen lokalen Impuls auffängt, diesen verteilt und damit die lokalen Folgen abschwächt. In diesem Fall werden die negativen Auswirkungen des ursprünglichen Impulses in der Summe abgemildert. Allerdings sind sie dann auch schwerer zu ermitteln, da weit verteilt.
Insbesondere der Straßenverkehr welcher als Summe aus Fuß-, Fahrrad-, Pkw- und Lkw-Verkehr mit über 70 Prozent der Verkehrsleistung den gesamten Verkehr dominiert [BMVI19bb] weist aufgrund seiner engmaschigen Infrastruktur oft Eigenschaften eines Sicherheitsnetzes auf. Alternativrouten ermöglichen beim Ausfall einer Route das Ausweichen durch Umfahren oder Umgehen. Der volkswirtschaftliche Schaden des Extremereignisses kann mithilfe eines Verkehrsmodells abgeschätzt werden, in welchem die zusätzlichen Fahr- oder Gehzeitminuten, welche von den Verkehrsteilnehmern durch ihr Ausweichverhalten aufgewendet werden, rekonstruiert und aufaddiert werden. [Schu12c] Der so ermittelte volkswirtschaftliche Schaden des Extremereignisses kann auch dann beträchtlich sein, wenn kein einzelner Verkehrsteilnehmer besonders stark betroffen ist. Der Schaden ist aber deutlich geringer, als wenn kein Ausweichen möglich wäre solange keine starken Staueffekte auftreten.
Die Robustheit des Individualverkehrs (Fuß, Fahrrad, Pkw, aber auch Lkw etc.) beruht auch darauf, dass die einzelnen Einheiten unabhängig voneinander schnell und flexibel auf ein Extremereignis, welches sie unmittelbar wahrnehmen, reagieren können. Flucht- und auch Herdenverhalten sind nicht nur angeboren, sondern oft auch rational. Sie können jedoch auch leicht eine Überlastung der Verkehrswege zur Folge haben, die für eine plötzlich auftretende massenhafte Nutzung nicht ausgelegt sind. Sobald Engpässe im Netz zutage treten, kommt es zu einer Impulsverstärkung, indem sich die Verkehrsteilnehmer gegenseitig behindern (Staueffekte). Im Extremfall ist der Fluchtweg völlig verstopft, in anderen Fällen kann das Straßensystem die zuvor geschilderte impulsmindernde, abfedernde Wirkung nicht oder nur abgeschwächt entfalten. In Fällen mit nur milden Staueffekten bleibt die impulsmindernde Wirkung des Straßennetzes überwiegend erhalten.
Eine zentrale Verkehrssteuerung kann die optimale Nutzung einer Verkehrsinfrastruktur während eines Extremereignisses verbessern, wenn sie für das entsprechende Krisenmanagement ausgelegt ist und von dem Extremereignis nicht selbst betroffen ist. Im Straßenverkehr kann eine Zentrale vor allem Informationen und Ratschläge liefern, jedoch keine verbindlichen Anweisungen aussenden, so dass ihr Verbesserungspotenzial beschränkt ist. Dafür weist der Straßenverkehr eine hohe Robustheit gegenüber einem Versagen einer zentralen Instanz auf, da er eine hohe Selbststeuerungsfähigkeit hat.
Im Gegensatz dazu wird der Eisenbahnverkehr infrastrukturseitig aus einer Zentrale gesteuert. Das hat den Vorteil, dass Störfälle auf dem Schienennetz mit organisierter Struktur aus einer Systemsicht heraus gemanaged werden können. Wenn jedoch die Informationsübermittlung über das Extremereignis zur Steuerungsebene hin ungenügend oder das zentrale Management schlecht ist oder Elemente des Steuerungsnetzes (Betriebszentralen, Stellwerke, Signalanlagen, Verbindungs- und Kommunikationswege) selbst betroffen sind, dann wird dieses Verkehrssystem stark beeinträchtigt oder lahmgelegt. Zudem weist das Streckennetz der Eisenbahn nicht die Engmaschigkeit und Redundanz des Straßennetzes auf. Darüber hinaus ist die Eisenbahn auch auf die Funktionsfähigkeit von Knoten- oder Punkt-Infrastrukturen (Bahnhöfen und Terminals) angewiesen, während beim engmaschigen Straßennetz einzelne Knoten (wie Kreuzungen) eine deutlich geringere Rolle spielen.
Luft- und Seeschiffsverkehr kommen im Gegensatz zum Landverkehr ohne umfangreiche Kanten- oder Wege-Infrastrukturen aus, sondern benötigen lediglich Punkt-Infrastrukturen (Flughäfen, Häfen). Diese Punkt-Infrastrukturen sind über weite Flächen verteilt und können sich im Notfall gegenseitig substituieren: Ein Seeschiff, das Hamburg ansteuern soll, kann auch nach Wilhelmshafen oder Rotterdam umgeleitet werden; Ähnliches gilt bei internationalen Flügen. Damit bieten diese Verkehrssysteme im Vergleich zu Straße und Schiene geringere Angriffsflächen und eine höhere Robustheit gegenüber Extremereignissen, und Verstärkereffekte spielen bei ihnen eine geringere Rolle. Die Bewegungsmedien Luft und Wasser können zwar während eines Naturereignisses stark beeinträchtigt sein (zum Beispiel durch Hoch- oder Niedrigwasser, Sturm, Vulkanasche), regenerieren sich aber nach dem Ereignis wieder rasch und von selbst. Allerdings sind die Mega-Hubs dieser Systeme Hamburger Hafen, Flughafen Frankfurt aufgrund ihrer Größe nicht vollständig ersetzbar und stellen daher für sich schon kritische Infrastrukturen dar.
Die verschiedenen Verkehrsmodi bilden zusammen das gesamte Verkehrsnetz, sodass auch Netz-Interdependenzen zwischen den verschiedenen Verkehrsmodi auftreten. Auch hier kann es wieder zu Aufschaukelungs- oder zu Stabilisierungseffekten kommen. Wenn eine wichtige Ausfallstraße durch ein Extremereignis ausfällt, kann möglicherweise das Massenverkehrsmittel Eisenbahn den Verkehr aufnehmen (Stabilisierung durch Substituierung). Diese Risikoverteilung wird verbessert, wenn Straßen und Schienenwege nicht direkt nebeneinander verlaufen, sodass sie nicht von denselben Ereignissen getroffen werden. Eine Gefahr kann auch daraus erwachsen, dass der Zusammenbruch eines Verkehrssystems zu Überlastungen bei einem anderen Verkehrssystem führt, bis hin zum Systemausfall (Impulsverstärkung). Eine besondere Interaktion hat sich während der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 im Luftverkehr gezeigt: Durch den Ausfall von Passagierflügen fielen auch die für die Luftfracht genutzten Laderäume der Passagierflugzeuge (sogenannte Belly-Fracht) weg, sodass indirekt auch der Güterverkehr betroffen war.
Schließlich gibt es auch Interdependenzen zwischen verschiedenen kritischen Infrastrukturen. Eine Steuerung oder Unterstützung von Verkehrsnetzen oder Verkehrsteilnehmern über Mobilfunk und die Internet-Cloud, die in Extremereignissen sehr hilfreich sein kann, ist anfällig gegenüber Störungen des Internets. Aus dem Internet kommt sogar als neue Gefahrenquelle für den Verkehr die Cyber-Kriminalität hinzu. Auch die Sektorkopplung zwischen Verkehr und Energie kann sich abschwächend oder verstärkend auf die Vulnerabilität auswirken. So trifft ein Stromausfall den Straßenverkehr durch den Ausfall von Lichtsignalanlagen und Antriebsenergie für Elektromobilität. Andererseits verringert sich durch die Ausbreitung der Elektromobilität die Abhängigkeit des Straßenverkehrs von der Versorgung mit fossilen Treibstoffen, die durch andere Extremereignisse betroffen sein kann (zum Beispiel in Süddeutschland durch lang anhaltendes Niedrigwasser am Rhein oder wenn große Raffinerien durch Hochwasser oder andere Ereignisse betroffen sind). Die in Zukunft zu erwartende Vielfalt der Antriebsarten von Fahrzeugen hat daher auch einen Resilienz stärkenden Aspekt.