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Mobilitätsgerechtigkeit zur Stärkung resilienter Verkehrssysteme

Erstellt am: 15.11.2021 | Stand des Wissens: 17.01.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky

Um Verkehrssysteme resilient zu gestalten, bedarf es materieller, finanzieller sowie koordinativ-organisatorischer Elemente, die integriert geplant und ausgeführt werden müssen. Darüber hinaus kommt auch der sozialen Komponente eine wichtige Bedeutung zu. Denn die Resilienz von Strukturen ist stark von der Akzeptanz, der Mitwirkung und der Nutzung (Verkehrsverhalten) durch die Stadtgesellschaft abhängig. Diese hängen zum einen vom Lebensstil, dem sozialen Milieu, also von der allgemeinen Lebensführung, und dem daraus resultierenden sozialen Kapital der Nutzenden ab [Dang20a, S. 106]. Sozialkapital ist ein Kernelement einer funktionsfähigen Stadt und ihrer Systeme und trägt maßgeblich zu deren Resilienz bei. Es beschreibt, wie ausgeprägt das gegenseitige Vertrauen in Stadtgesellschaft, Verwaltung und Politik ist und wie groß die Motivation für Kooperationen und Unterstützung aus der Bürgerschaft sind [BBSR18c, S. 29]. Denn der Erfolg von Resilienzstrategien liegt in einem reibungslosen Krisenmanagement und einem schnellen Ineinandergreifen von Maßnahmen. Angst, Unsicherheit, fehlendes Vertrauen und Akzeptanz auf der Seite der Bevölkerung können hier hinderlich sein. Die Einbindung der Bürgerschaft in Netzwerke und die Förderung von Partizipation in Gestaltungsprozessen können zu einer Steigerung des gegenseitigen Vertrauens, aber auch zu mehr Autonomie und Handlungsspielräumen (Emanzipation durch Empowerment) in Krisensituationen führen.
Ein Weg für Kommunen und Politik, das Vertrauen in und die Akzeptanz von resilienzfördernden Transformationsprozessen der Menschen vor Ort zu stärken, ist, ihre Bedarfe zu erkennen und ihre Wünsche wertzuschätzen. Im Verkehrsbereich lässt sich dies über die Einrichtung mobilitätsgerechter Strukturen erreichen. Mobilitätsgerechtigkeit beinhaltet, dass alle Menschen, unabhängig von persönlichen Voraussetzungen und sozialem oder wirtschaftlichem Status, die Möglichkeit haben müssen, mobil zu sein - also frei wählen zu können, welches Verkehrsmittel für unterschiedliche Wege genutzt wird, ohne durch infrastrukturelle, finanzielle oder körperliche Einschränkungen in der eigenen Mobilität beeinträchtigt zu sein. [Sand20, S. 9] Für Verkehrssysteme, insbesondere in verdichteten Siedlungsbereichen, bedeutet das eine kleinteiligere, barrierefreie Ausgestaltung des Straßenraums, eine Priorisierung von öffentlichem Nahverkehr und aktiven Mobilitätsformen und damit eine Unabhängigkeit vom motorisierten Individualverkehr. Raumstrukturell knüpft dies an die Idee der "Stadt der kurzen Wege" an, die eng mit dem Leitbild der resilienten Stadt verbunden ist (siehe auch den Synthesebericht zur Resilienz durch kompakte städtische Strukturen). Die Priorisierung von mobilitätsgerechten Strukturen fördert das Vertrauen in kommunale und politische Instanzen und damit in deren Handhabung und Umsetzung von Notfallplänen im Krisenfall. Durch eine frühe Einbindung der Bürgerschaft in Planungsprozesse und eine umfassende Aufklärung zu Handlungsmöglichkeiten in Notfallsituationen können Problemwahrnehmungen, soziale Kontrolle, das Wissen um die Folgen des eigenen Handelns und das Gefühl, Dinge beeinflusst zu können, gestärkt werden. [Dang20a, S. 106; Hune15, S. 13]
Die derzeit differenzierten (Sozial-)Raumstrukturen haben sich insbesondere aufgrund sozialer Ungleichheit, unterschiedlicher Wohnraumqualitäten und ungleichem Zugang zu bestimmten Verkehrssystemen herausgebildet. Auch Wohnstandort- und Mobilitätspräferenzen verschiedener Lebensstilgruppen und sozialer Milieus haben zu einer Differenzierung beigetragen. [Jarr12, S. 24ff.] Räume, die ein monomodales Verkehrsverhalten fördern, können in Störungs- und Krisenfällen eine besonders hohe Betroffenheit bei der Bürgerschaft erzeugen, da alternative Fortbewegungsmittel nicht zur Verfügung stehen, keine Kenntnis oder Unsicherheiten über die Nutzung dieser vorhanden ist. Indem Menschen mit unterschiedlichen Mobilitätsbedarfen gleichermaßen Zugang zu Verkehrssystemen ermöglicht wird, lassen sich für sie Einschränkungen in Extremsituationen, aber auch im alltäglichen Mobilitätsverhalten, besser bewältigen: durch mehr Handlungsmöglichkeiten und flexiblere Strukturen können temporäre (Teil-)Ausfälle von Verkehrsinfrastrukturen selbstwirksam und selbstsicherer kompensiert werden. Im Alltag können Überlastungssituationen zu den Stoßzeiten durch Nutzung von alternativen Verkehrsträgern ebenfalls verringert werden [Hune15, S. 13].
Eine wichtige Eigenschaft resilienter Städte ist ihre Fähigkeit, nach kritischen Ereignissen schnell wieder (nahezu) vollumfänglich zu funktionieren. Wetterextreme, wie Starkregen oder Stürme dauern meist nur wenige Stunden oder Tage, wirken sich aber häufig mittel- bis langfristig auf Städte und ihre Systeme aus. Während logistische Hauptrouten und Wirtschaftswege bei Aufräumarbeiten zunächst priorisiert werden, leiden die Menschen in Wohngebieten, kleineren Siedlungsgebieten oder ländlichen Ortschaften länger unter nur schwer befahrbaren Straßen oder gefährdeten Streckenabschnitten. Hier können bürgerschaftliche oder ehrenamtliche Organisationen einen großen Anteil zur Resilienz der Verkehrssysteme beitragen: Selbstorganisiert und versicherungstechnisch abgesichert ergänzen sie den offiziellen Resilienzplan und können sogar in ihn integriert werden. Nach dem Pfingststurm Ela im Sommer 2014 gründete sich in der Stadt Essen die Initiative "Essen packt an", um die professionelle Beseitigung der teils schweren Sturmschäden im Stadtraum zu unterstützen. In Absprache mit Politik und Verwaltung wurden ihnen Sonderaufenthaltsrechte für gesperrte Gebiete erteilt, um Verkehrswege und Grünflächen schnell wieder einsatzfähig zu machen. Allerdings ist der Unfallschutz für ungebundene Helfer nur im unmittelbaren Gefahrenfall gegeben, nicht aber für den Zeitraum einer mittelfristigen Wiederherstellung des Ursprungszustandes. [FeFl16, S. 66] Hier ist es wichtig, Formalisierung zu schaffen, Organisationsformen einzurichten, die es der Bürgerschaft ermöglicht, sich einzubringen und den rechtlichen Rahmen an die Bedarfe vor Ort anzupassen.
Wie ist die Transformation hin zu sozialgerechten Mobilitätsstrukturen also anzustoßen? Wichtigste Maßnahme ist das Angebot inklusiver Mobilitätsoptionen und die Schaffung gerechter Lebensräume. Das bedeutet auch, dass über lange Zeiträume hinweg gefestigte Strukturen, wie die vorrangige Behandlung des Pkw-Verkehrs, aufgebrochen und durch neue, inklusive Lösungen ersetzt werden müssen. Dabei ist es wichtig, realistische und konkrete Alternativen zu schaffen, die ihren Mehrwert für die eigene Person direkt spürbar machen. Wie solche Alternativen aussehen und welche Lösungen für Kommunen und bestimmte Quartiere geeignet sein können, lässt sich mit Hilfe von Reallaboren realitätsnah erproben. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) empfiehlt "[...] die Schaffung von Experimentierräumen für Stadtteile, in denen nicht motorisierter individueller Mobilität und öffentlichem Personennahverkehr uneingeschränkt Vorrang eingeräumt wird [...]. Das Ziel sollte sein, die Vision einer Stadt der leichten und sozial inklusiven sowie umweltfreundlichen Erreichbarkeit robust in der Stadtentwicklungspolitik zu verankern." [WBGU16, S. 426]
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Resilienz von Verkehrssystemen unter besonderer Berücksichtigung des Klimawandels (Stand des Wissens: 26.11.2021)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?543869
Literatur
[BBSR18c] Prof. Dr. Theo Kötter, Dr. Dominik Weiß, Timo Heyn, Jan Grade, Dr. Gottfried Lennartz Stresstest Stadt - wie resilient sind unsere Städte?, 2018/02, ISBN/ISSN 978-3-87994-224-4
[Dang20a] Dangschat, Jens S. Verkehrsmittelnutzung, soziales Milieu und Raum, veröffentlicht in Wechselwirkungen von Mobilität und Raumentwicklung im Kontext gesellschaftlichen Wandels, 2020, ISBN/ISSN 978-3-88838-099-0
[FeFl16] Miriam Fekkak, Mark Fleischhauer, Stefan Greiving, Rainer Lucas, Jennifer Schinkel, Uta von Winterfeld Resiliente Stadt - Zukunftsstadt: Forschungsgutachten, 2016/11, Online-Referenz https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:wup4-opus-66143
[Hune15] Hunecke, Marcel Mobilitätsverhalten verstehen und verändern. Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung, 2015
[Jarr12] Jarras, Julia Wohnstandortpräferenzen und Mobilitätsverhalten, VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, Wiesbaden, 2012, ISBN/ISSN 978-3-531-18438-8
[Sand20] Sander, Hendrik Die Berliner Verkehrswende. Von der auto- zur mobilitätsgerechten Stadt, veröffentlicht in Analyen Nr. 60, 2020/06
[WBGU16] Frauke Kraas, Claus Leggewie, Peter Lemke, Ellen Matthies, Dirk Messner, Nebojsa Nakicenovic, Hans Joachim Schellnhuber, Sabine Schlacke, Uwe Schneidewind Der Umzug der Menschheit. Die transformative Kraft der Städte, Berlin, 2016, ISBN/ISSN 978-3-936191-44-8
Glossar
Motorisierter Individualverkehr Als motorisierter Individualverkehr (MIV) wird die Nutzung von Pkw und Krafträdern im Personenverkehr bezeichnet. Der MIV, als eine Art des Individualverkehrs (IV), eignet sich besonders für größere Distanzen und alle Arten von Quelle-Ziel-Beziehungen, da dieser zeitlich als auch räumlich eine hohe Verfügbarkeit aufweist. Verkehrsmittel des MIV werden von einer einzelnen Person oder einem beschränkten Personenkreis eingesetzt. Der Nutzer ist bezüglich der Bestimmung von Fahrweg, Ziel und Zeit frei (örtliche, zeitliche Ungebundenheit des MIV).

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?542881

Gedruckt am Dienstag, 16. April 2024 13:23:00