Eigenwirtschaftlichkeits- und Bestellerprinzip im Schienenverkehr aus ökonomischer Sicht
Erstellt am: 29.07.2021 | Stand des Wissens: 29.07.2021
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Das Prinzip des Vorzugs der Eigenwirtschaftlichkeit, wo wirtschaftlich möglich, ist ökonomisch gut begründet. Denn im Gegensatz zu Behörden oder Schulen betreiben Infrastruktur- und Verkehrsunternehmen wirtschaftliche Aktivitäten, und der Staat ist weder selbst ein guter Unternehmer, noch kann er wirtschaftliche Aktivitäten großer Unternehmen gut steuern.
Diese Grundeinsichten wurden unter anderem aus den Problemen der Deutschen Bundesbahn gezogen und führten zur Bahnreform von 1994. Der Kern der Bahnreform bestand in der Einführung des Artikels 87e in das Grundgesetz, welcher in Absatz 3 die Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunternehmen charakterisiert, die in privat-rechtlicher Form geführt werden. Die Eisenbahn des Bundes wurde von einer Behörde in die Deutsche Bahn Aktiengesellschaft umgewandelt, die zunächst im Eigentum des Bundes verblieb (formelle Privatisierung). Sodann wurde sie in verschiedene Teil-Aktiengesellschaften für Infrastruktur, Personenfern-, Personennah- sowie Güterverkehr aufgespalten, [DBGrG, §2 Abs. 1] mit der Absicht einer späteren Veräußerung der Aktien dieser Gesellschaften am Kapitalmarkt (materielle Privatisierung). Möglichst viele dieser Unternehmen sollten privatisiert werden, sobald sie wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen könnten, also kapitalmarktfähig wären. Dabei wurde jedoch unterschieden zwischen der Infrastrukturebene und der Transportebene, wobei letztere die Unternehmen umfasst, die Personen- und Güterverkehre betreiben. Für die Infrastrukturunternehmen des Bundes gelten die Sonderregelungen, dass sie mehrheitlich im Besitz des Bundes bleiben müssen und dass auch die Veräußerung eines Teils ihrer Aktien nur aufgrund eines Gesetzes, welches der Zustimmung des Bundesrates bedarf, erfolgen kann. [GG, Art. 87e, Abs. 3] [DBGrG, §2 Abs. 3] Für die Unternehmen der Transportebene gilt dies nicht, sie können jederzeit vom Bund vollständig veräußert werden. Mit der Bahnreform wurde außerdem der Netzzugang und Wettbewerb durch andere, nicht staatliche und nicht subventionierte Unternehmen auf der Transportebene zugelassen. Das Prinzip des Vorzugs der Eigenwirtschaftlichkeit, wo wirtschaftlich möglich, ist somit grundlegend für die Verfasstheit des deutschen Eisenbahnsektors insgesamt und insbesondere der Transportebene.
Die meisten Unternehmen anderer Infrastruktur- und Versorgungssektoren wie Telekom, Energie, Wasserversorgung und Abfallentsorgung sind vollständig eigenwirtschaftlich aufgestellt, und viele davon werden in einem Regulierungsrahmen von privaten Unternehmen betrieben. In der allgemeinen Verkehrspolitik ist spätestens seit der Pällmann Kommission von 2000 das Prinzip Verkehr finanziert Verkehr leitend [KVIF00a], und auch in der Europäischen Union gilt das user pays principle. [EuKom11m, S.10] Im öffentlichen Personennahverkehr mit Bussen und Straßenbahnen sind zwar Subventionen üblich, doch sieht das Personenbeförderungsgesetz auch hier vor, dass eigenwirtschaftlichen Verkehren der Vorzug zu geben ist, wenn diese möglich sind. [PBefG12, § 8 Abs 4. in Verbindung mit § 8a Abs. 1] Die Autobahnen werden seit 2021 von der Autobahn GmbH im Besitz des Bundes betrieben, die sich zum größeren Teil aus den Einnahmen der Lkw-Maut finanziert, welche nach dem Prinzip einer Vollkostendeckung (welche auch die Kapitalkosten umfasst) erhoben wird. Nur für Eisenbahninfrastruktur ist man in Deutschland und Europa (im Gegensatz zu Nordamerika und Japan) der Auffassung, dass sie stark subventioniert werden sollte, um ein flächendeckendes Netz aufrechtzuerhalten. Für Deutschland wurde dies in Absatz 3 von Artikel 87e des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Bundesschienenwegeausbaugesetz geregelt. Auf Basis der damit erreichten Senkung der Trassenpreise sollte es jedoch möglich sein, dass die Unternehmen der Transportebene eigenwirtschaftlich arbeiten können.
So profitiert der Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) in besonderer Weise von den hohen öffentlichen Investitionen in die Schieneninfrastruktur für den Hochgeschwindigkeitsverkehr. Die Kapitalkosten in Form von Abschreibungen und Zinsen für vom Bund finanzierte Schieneninfrastruktur werden den Nutzern der Infrastruktur nicht in Form von Trassenpreisen auferlegt, sondern sind subventioniert.
In Bezug auf den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) sind jedoch auch Subventionen auf der Transportebene nach dem Bestellerprinzip ökonomisch gut begründet. [Knie07b, S.112] Da Raumüberwindung generell mit hohen Kosten verbunden ist, weisen alle Infrastruktur- und Versorgungsbereiche sogenannte Dichtevorteile oder economies of density auf. Die Kosten der Erschließung und Versorgung dünn besiedelter Gebiete sind oft so hoch im Vergleich zur Nachfrage, dass sie für die Nutzer nicht zu bezahlen sind. Hingegen konzentriert sich in und zwischen den Ballungsgebieten ausreichend hohe Nachfrage, so dass eigenwirtschaftlicher Betrieb möglich wird. Dies gilt für den Telekomsektor und Postdienste, für öffentliche Verwaltungsinfrastrukturen, für Straßen wie auch für Eisenbahninfrastruktur und Eisenbahnverkehre. Viele Infrastruktur- und Versorgungsbereiche werden daher in dünn besiedelten Räumen auf die eine oder andere Art subventioniert, im Rahmen eines Bestellerprinzips mit Ausschreibungswettbewerb. Manchmal wird, wie beim SPNV, direkt Steuergeld eingesetzt. Dies basiert auf Artikel 106a des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Regionalisierungsgesetz. In anderen Fällen, wie bei Postdiensten, legt die Regulierungsbehörde einigen Unternehmen Universaldienstverpflichtungen für die Versorgung des ländlichen Raumes auf oder sie vergibt einen Versorgungsauftrag im Rahmen einer Ausschreibung, welcher durch Zwangsabgaben auf Postdienste in den Ballungsräumen querfinanziert wird. [PostG, Abschnitt 3]
Hinsichtlich des Eisenbahnverkehrs wurde nie diskutiert, ob der SPFV durch eine Zwangsabgabe den SPNV querfinanzieren sollte, obwohl dies gut gerechtfertigt werden könnte, denn der SPNV sammelt gewissermaßen in der Fläche die Passagiere ein, die dann in den großen Knoten eine ausreichende Nachfrage für den SPFV bilden. Insofern profitiert der SPFV indirekt auch von den Subventionen des SPNV.
Das bisherige eigenwirtschaftliche Modell des SPFV setzt daher darauf, dass die öffentliche Finanzierung der Infrastrukturen, die der SPFV nutzt, sowie die Subventionierung des Einsammelns und Verteilens der Kunden durch den SPNV ausreichen sollten, um die Grundlage für einen eigenwirtschaftlichen Fernverkehr zu bilden. Auf dieser Basis sollte sich im besten Fall auch Wettbewerb im SPFV entwickeln, was auch immer ermöglicht und erhofft wurde, allerdings bisher kaum eingetreten ist. Im andern Fall, wenn dauerhaft kein signifikanter Wettbewerb entstünde, müsste ein monopolistisches, aber eigenwirtschaftliches Unternehmen des SPFV reguliert werden.