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Potenziale und Herausforderungen des Deutschland-Takts im Schienenpersonenfernverkehr

Erstellt am: 28.07.2021 | Stand des Wissens: 28.07.2021
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Ansprechpartner
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch

Der Begriff Deutschland-Takt beschreibt ein integrales also flächendeckend aufeinander abgestimmtes Taktfahrplankonzept für den deutschen Schienenfernverkehr. In einem solchen integralen Taktfahrplan (ITF) wird die nahtlose Verknüpfung verschiedener öffentlicher Fernverkehrsangebote in Knotenbahnhöfen angestrebt. Dadurch entstehen für die Fahrgäste attraktive Fahrpläne mit vielen Verbindungsmöglichkeiten und geringen Wartezeiten beim Umsteigen. Allerdings ist ein ITF auch mit vermehrten und verlängerten Halten an den Knotenbahnhöfen verbunden, und er erfordert hohe Pünktlichkeitsgrade, um die Vorteile zu realisieren.
Ein ITF erfordert hohe Kapazitäten in den Knotenbahnhöfen, wo zur sogenannten Taktzeit zahlreiche Züge nahezu gleichzeitig einfahren und ausfahren sollen, zumal auch der Schienenpersonennahverkehr mit einbezogen werden soll. Auch auf den Strecken (Kanten) wird für einen ITF eine gut ausgebaute Infrastruktur vorausgesetzt. Damit sich die Züge in den Knotenbahnhöfen treffen können, werden möglichst identische Fahrzeiten zwischen benachbarten Bahnhöfen angestrebt. Dies erfordert in einigen Fällen die Beschleunigung der Fahrten durch Infrastrukturausbauten, während in anderen Fällen Fahrten absichtlich verlangsamt werden. Die Einführung eines ITF geht daher in aller Regel mit beträchtlichen Infrastrukturinvestitionen einher, um die Knotenkapazitäten zu erweitern und einzelne Verbindungen mit ungünstigen Fahrzeiten zu beschleunigen.
Die Einführung eines ITF ist deshalb ein umfassendes, komplexes Projekt und erfordert einen langfristigen Planungshorizont. Im Rahmen einer fahrplanbasierten Infrastrukturentwicklung wird hierbei zunächst ein langfristiger Zielfahrplan entwickelt, aus dem sich Anforderungen an die Infrastruktur ergeben. [BMVI19au] Anschließend werden entsprechende Ausbaumaßnahmen identifiziert, die in einem langwierigen, iterativen Prozess in mehreren Etappen umzusetzen sind.
Als Vorbild für einen flächendeckenden Taktfahrplan im Schienenpersonenverkehr gilt in erster Linie die Schweiz, wo ein besonders konsequenter ITF im Rahmen des Bahn 2000-Programms umgesetzt wurde. In der Schweiz wurde die Einführung eines ITF durch eine besonders kompakte Bevölkerungsverteilung und eine günstige Topographie begünstigt. Ein weiteres europäisches Beispiel für einen umfassenden Taktfahrplan sind die Niederlande, wo das integrale Fahrplankonzept Spoorslag 70 bereits 1970 eingeführt wurde. [PMG17] Auch die Nahverkehre in vielen deutschen Bundesländern sind nach den Prinzipien eines integralen Taktfahrplans strukturiert.
Im Vergleich zu diesen Beispielen sind die geographischen, topographischen Rahmenbedingungen für einen ITF im deutschen Fernverkehr weniger günstig. Bei der Einführung eines ITF in Deutschland muss daher von den strengen Regeln eines ITF teilweise abgewichen werden. In diesen Fällen ist es jedoch möglich, sich durch verschiedene Maßnahmen einem ITF anzunähern. Hierzu gehören etwa die Überlagerung verschiedener Linien oder die Konstruktion mehrerer unabhängiger Taktzeiten. [BMVI15x, S.21]
In Hinblick auf solche etwas abgeschwächten Anforderungen an einen Deutschland-Takt zeigt sich, dass das Fahrplankonzept der Deutschen Bundesbahn bis in die 1980er Jahre nicht allzu weit von einem ITF entfernt war. Erst mit den Infrastrukturausbauten für den Hochgeschwindigkeitsverkehr, bei denen Taktverknüpfungen mit den herkömmlichen Linien eine untergeordnete Rolle spielten, entfernte sich der Fernverkehrsfahrplan der DB weiter von den Eigenschaften eines ITF. Dies möchte man nun durch die Entwicklung eines Deutschland-Taktes wieder einfangen und korrigieren, was jedoch recht langwierig und kostspielig ist. Zudem ist seit der Bahnreform von 1994 die Auslastung der Infrastruktur im Bereich der wichtigsten Knoten und Kanten auch durch den Schienenpersonennahverkehr und den Schienengüterverkehr stark gestiegen, was die Realisierung eines Deutschland-Taktes heute deutlich erschwert.
Der Entwurf eines Deutschland-Takts ist Gegenstand der vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur in Auftrag gegebenen und 2015 veröffentlichten Machbarkeitsstudie für einen Deutschland-Takt im Schienenverkehr. [BMVI15x] Die dort entwickelten Zielfahrpläne 2030 wurden seitdem in verschiedenen Gutachten konkretisiert und komplettiert. [BMVI20y]
Spätestens mit der Gründung der Initiative Deutschland-Takt im Jahr 2008 [IDT2008] wurde das integrale Fahrplankonzept Gegenstand politischer Diskussion. Inzwischen ist der Deutschland-Takt wohl zum wichtigsten Leitbild der deutschen Eisenbahnpolitik geworden. [BMVI18ac] Dies ist auch im Kontext der Klimapolitik, des allgemeinen Investitionsrückstaus und Modernisierungsbedarfs bei den Infrastrukturen sowie den seit etwa 2015 gut gefüllten öffentlichen Kassen in Verbindung mit internationalen Forderungen nach höheren Staatsausgaben Deutschlands zu begreifen. Seit langem gibt es Forderungen, die Eisenbahn insbesondere im Bereich der Knoten durch eine Vielzahl größerer und kleinerer Investitionen zu ertüchtigen, um die zunehmende Anzahl von Netzengpässen zu beseitigen und damit zukünftig mehr Verkehr auf die Schiene überhaupt erst zu ermöglichen. Zudem gibt es einen starken Modernisierungsrückstand bei den Stellwerken und, aus europäischer Sicht, bei der Einführung des European Train Control Systems (ETCS) der Leit- und Sicherungstechnik in Deutschland. Das Konzept Deutschland-Takt dient auch als politisches Leitbild für die Umsetzung dieser seit langem anstehenden Notwendigkeiten.
Ungelöst sind hingegen die ordnungspolitischen Fragen, die sich mit der Einführung eines Deutschland-Taktes verbinden. Soll es eine zentrale Planbehörde geben, die den Takt organisiert? Sollen sogar Verkehre subventioniert werden und somit das bisher geltende Prinzip der Eigenwirtschaftlichkeit des Schienenpersonenfernverkehrs aufgegeben werden? Dann würde sich das System des Fernverkehrs dem heute existierenden System des Schienenpersonennahverkehrs annähern. Soll der Fernverkehr auch im Deutschland-Takt für den Eintritt von Wettbewerbern offenbleiben oder soll sogar ein stärkerer Wettbewerb im Rahmen des Deutschland-Taktes organisiert werden? Soll auch weiterhin freier Wettbewerb möglich sein, insbesondere auch Wettbewerb zum Deutschland-Takt? Keine dieser Fragen, die sich stellen werden, wurde bisher beantwortet. So stellte die Monopolkommission 2019 fest: Während die technische Konzeptionierung eines Deutschland-Takts vorangetrieben wird, existieren im Hinblick auf die rechtliche und regulatorische Umsetzung bisher keine konkreten Planungen. [MPK19, S.58]
Ansprechpartner
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Potenziale und Herausforderungen des Deutschland-Takts im Schienenpersonenfernverkehr (Stand des Wissens: 29.07.2021)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?538968
Literatur
[BMVI15x] IGES Institut GmbH Machbarkeitsstudie zur Prüfung eines Deutschland-Takts im Schienenverkehr, 2015
[BMVI18ac] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (Hrsg.) Bundesminister Scheuer: Deutschlandtakt macht Schienenverkehr pünktlicher, schneller und verlässlicher, 2018
[BMVI19au] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (Hrsg.) Infrastruktur für einen Deutschland-Takt im Schienenverkehr, 2019
[BMVI20y] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (Hrsg.) Der Schienenpakt steht! Die Schiene ist für uns der Verkehrsträger Nummer Eins, 2020
[IDT2008] Initiative Deutschlandtakt (Hrsg.) Initiative Deutschland-Takt fordert deutschlandweiten Taktfahrplan, 2008
[MPK19] Monopolkommission (Hrsg.) Mehr Qualität und Wettbewerb auf die Schiene - Sektorgutachten der Monopolkommission, 2019
[PMG17] ProMedia Group (Hrsg.) Spoorslag 70, 2017
Glossar
ITF Integraler Taktfahrplan Nach dem Merkblatt zum Integralen Taktfahrplan lassen sich drei verschiedene Formen des ITF unterscheiden: Der Begriff des idealen ITF umfasst die Koordination der Taktfahrpläne von Linien zu einem abgestimmten, vertakteten Gesamtfahrplan, wobei eine Verknüpfung in Richtung und Gegenrichtung in ausgewählten Taktknoten mit dem Ziel erfolgt, die Anzahl optimaler Anschlüsse zu maximieren. Der modifizierte ITF schränkt die vollständige Verknüpfung entsprechend des idealen ITF ein und berücksichtigt dabei die verkehrlichen, geographischen und wirtschaftlichen Randbedingungen. Der ITF im erweiterten Sinne umfasst Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität im (Schienen-)Personennahverkehr, die nicht zwangsläufig mit der eigentlichen Definition des ITF abgedeckt sind.
Schienengüterverkehr
Unter Schienengüterverkehr (SGV) wird der Transport von Gütern mit der Eisenbahn verstanden. Diese werden in Güterzügen unter Verwendung (spezieller) Güterwagen befördert. Diese Verkehre können entweder auf gesonderten Güterverkehrsstrecken oder im Mischverkehr, auf gemeinsam durch den Güter- und Personenverkehr genutzten Strecken, realisiert werden. Leistungen des Schienengüterverkehrs werden häufig als Teil einer Logistikkette in logistische Gesamtkonzepte eingebunden.
Deutschland-Takt Der Deutschland-Takt ist ein Ansatz zur netzweiten Optimierung des Schienenpersonenverkehrs in Deutschland. Den Kernpunkt bildet hierbei die Einführung eines Integralen Taktfahrplans (ITF), die notwendigerweise mit koordinierten Infrastrukturverbesserungen verbunden ist. Das Ziel soll eine Steigerung der Fahrgastzahlen durch ein attraktiveres, vertaktetes und gut verknüpftes Verkehrsangebot sowohl im Schienenpersonenfernverkehr als auch Schienenpersonennahverkehr sein.
Hochgeschwindigkeitsverkehr Als Hochgeschwindigkeitsverkehr (HGV) werden Zugfahrten von Trieb[wagen]zügen (sog. Hochgeschwindigkeitszüge) bzw. dafür geeigneten lokbespannten Zügen mit mehr als 200 km/h Spitzengeschwindigkeit auf extra dafür [um]gebauten HGV-Strecken bezeichnet.
ETCS
Standard eines EU-weit harmonisierten Zugbeeinflussungssystems, welches im Falle einer entsprechenden Streckeninfrastrukturausstattung und Fahrzeugertüchtigung die unterbrechungsfreie Durchführung grenzüberschreitender Schienenverkehre ermöglicht, ohne zu diesem Zweck das triebfahrzeugseitige Mitführen unterschiedlicher, auf nationaler Ebene verwendeter Systemkomponenten vorauszusetzen.

Mit Hilfe von Zugbeeinflussungssystemen lassen sich auf dem Streckennetz stattfindende Fahrten beispielsweise hinsichtlich einer Einhaltung erlaubter Höchstgeschwindigkeiten oder der Befolgung signalisierter Befehle überwachen, um gegebenenfalls automatische Schutzreaktionen auszulösen. So können etwa Triebfahrzeuge, welche ein Halt zeigendes Signal überfahren, selbsttätig zum Stillstand gebracht werden.

In Zukunft wird der automatische Zugbetrieb (Automatic Train Operation, ATO) auf Grundlage des ECTS gebaut.
Schienenpersonennahverkehr
Gemäß Regionalisierungsgesetz (RegG) § 2 handelt es sich bei einer auf der Schiene erbrachten Beförderungsdienstleistung um ein Angebot des Nahverkehrs, "wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle [...] die gesamte Reiseweite 50 Kilometer oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nicht übersteigt" [RegG, § 2]. Zur Erfüllung der Daseinsvorsorge wird der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) von den Ländern bestellt und unterstützt. Der SPNV ist eine Sonderform des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Der ÖPNV ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert, der SPNV zusätzlich noch im Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG).
Leit- und Sicherungstechnik
Unter dem Begriff der Leit- und Sicherungstechnik (LST) werden technische Maßnahmen zusammengefasst, die getroffen werden, um einen sicheren, meist signalgeführten Eisenbahnbetrieb durchzuführen. Sie regelt die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen den Anlagen, den Signalen und den Fahrzeugen, die zur sicheren Durchführung von Zug- und anderen Fahrten notwendig sind. Wichtigster Bestandteil der LST ist die Stellwerkstechnik, mit Hilfe derer das Stellen von Weichen und Signalen sowie die Sicherung von Fahrstraßen erfolgt. Zur LST gehört auch die Zugbeeinflussung (z. B. PZB, LZB, ETCS).
Eigenwirtschaftlichkeit
Der Begriff der Eigenwirtschaftlichkeit beschreibt, im Sinne der Erbringung von Verkehrsdienstleistungen durch ein öffentliches Unternehmen, die alleinige Kostendeckung der dazu notwendigen finanziellen Aufwendungen durch Beförderungserlöse (Fahrscheinverkauf) und/oder Ausgleichs- bzw. Erstattungszahlungen (z. B. Subventionen). In Deutschland sind bspw. Verkehrsleistungen im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nach § 8 Absatz 4 PBefG eigenwirtschaftlich zu erbringen.
Schienenpersonenfernverkehr
Der Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) ist die Beförderung von Reisenden mit Eisenbahnzügen über längere Strecken mit mehr als einer Stunde Fahrzeit oder 50 km Entfernung. Im Gegenzug zum Schienenpersonennahverkehr (SPNV) bzw. dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) wird der SPFV eigenwirtschaftlich betrieben und muss sich betriebsökonomisch selbst tragen.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?538656

Gedruckt am Freitag, 26. April 2024 13:04:51