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Das 365-Euro-Ticket als aktuelle Tarifmaßnahme im ÖPNV

Erstellt am: 30.03.2021 | Stand des Wissens: 06.12.2022
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Bahnverkehr, öffentlicher Stadt- und Regionalverkehr, Prof. Dr.-Ing. R. König

Oft wird die Höhe der Fahrpreise von Fahrgästen (berechtigterweise) kritisiert. Für die Akzeptanzförderung im Hinblick auf eine Verkehrswende zugunsten des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) ist die Unterstützung der ÖPNV-Stammkunden als Inhaber der Zeitkarten eine sinnvolle Maßnahme. Deswegen werden zunehmend stark reduzierte Jahrestickets mit einer hohen Marketingwirkung als eine Option zu ÖPNV-Marktwachstum diskutiert und getestet.
Das 365-Euro-Ticket steht repräsentativ für Fahrscheinersatzlösungen für Kunden des ÖPNV. Dieses Tarifinstrument kann als Anreiz dienen, Pkw-Nutzer durch eine Ticketpreisreduzierung vom eigenen Pkw unabhängiger zu machen und im besten Falle zu erreichen, dass diese ganz auf den ÖPNV umsteigen. Darüber hinaus bietet das Ticket auch für ÖPNV-Gelegenheitsnutzer einen Anreiz, diesen häufiger zu nutzen.
Das bekannteste Beispiel bietet die Stadt Wien (Abb. 1). Dort wurde der Preis für das Jahresticket bereits 2012 auf 365 Euro gesenkt. In den vergangenen Jahren entwickelte sich die österreichische Hauptstadt laut Analysen zunehmend zu einem weltweiten Vorzeigebeispiel für eine stadtverträgliche Verkehrspolitik. Da Wien bereits vor Einführung des 365-Euro-Tickets allerdings einen hohen Modal-Split-Anteil des ÖPNV aufwies, trat der gewünschte Verkehrsverlagerungseffekt im MIV-Bereich trotz eines vorzeitigen Angebotsausbaus nicht im erhofften Maße ein. Stattdessen traten Verlagerungseffekte im Zeitkartenbereich auf, da Vielfahrende nun ein günstigeres Jahresticket erwerben konnten [Civ19].
civity_365_Euro_Ticket_Wien.jpgAbb. 1: Entwicklung von Nachfrage und Modal-Split in Wien [Civ20]
Weitere Probleme waren [Tlu21] [Civ19]:
  • verminderte Einnahmen je Beförderungsfall
  • erhöhte Kosten für notwendige Angebotsausweitungen bei steigender Nachfrage (teilweise gedeckt durch Arbeitgeberabgabe und Parkraumbewirtschaftung)
  • drastische Anhebung der Gelegenheitstarife zur Kompensation der Ausfälle bei den Fahrgeldeinnahmen
  • Umstieg von Radfahrer und Fußgänger auf den ÖPNV
  • kein signifikanter Zusammenhang zwischen Maßnahme und Nachfrage erkennbar
Einen deutlich stärkeren Fahrgastzuwachs erreichte man in Wien trotzdem (Abb. 2). Dieser ist jedoch auf einen forcierten Aus- und Umbau des ÖPNV-Angebotes zur stetigen Verbesserung der Angebotsdichte und Beförderungsqualität zurückzuführen (Abb. 3) [Civ19].
civity_Modal_Split_Wien_HH_B_M_K.jpg
Abb. 2: Modal-Split in Wien (2018) und in deutschen Vergleichtsstädten (2017) [Civ19]
           civity_Angebotsdichte_Wien_HH_B_M_K.jpg                   civity_Angebotsentwicklung_2006_2017_Wien_HH_B_M_K.jpg
Abb. 3: ÖPNV-Angebotsdichte und prozentuale Veränderung des ÖPNV-Angebots 2006 bis 2017 in Wien und in deutschen Vergleichtsstädten [Civ19]
Aufgrund der genannten Probleme und fehlender Inflationsanpassungsmöglichkeiten ist das 365-Euro-Ticket nicht zu empfehlen. Ein dauerhaftes Festsetzen auf diesen Betrag wäre zwar möglich, könnte zukünftig dann aber aus Kostengründen zu Lasten des Angebotes gehen und zu einer Fahrplanausdünnung führen. Es sollte daher zunächst immer in eine Angebotsverbesserung investiert werden, bevor diese Mittel in eine Fahrpreissubventionierung bei gleichzeitig schlechtem Angebot fließen. Qualität und Verfügbarkeit des ÖPNV sind das entscheidende Argument für die Verkehrsmittelwahl [Tlu21].
Auch in Wien war die Ausweitung des ÖPNV-Angebots der wichtigste Erfolgsfaktor [Civ19]. Einen überproportionalen Anstieg der Fahrpreise wie in den letzten Jahren gilt es jedoch ebenso zu vermeiden, um die Wettbewerbsfähigkeit zum MIV beizubehalten. Eine Vereinfachung der ÖPNV-Tarife ist als Abbau von Zugangshemmnissen vor allem für neue Kund*innen ebenfalls empfehlenswert.
Ansprechpartner
TU Dresden, Professur für Bahnverkehr, öffentlicher Stadt- und Regionalverkehr, Prof. Dr.-Ing. R. König
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Zukünftige Finanzierung des ÖPNV (Stand des Wissens: 06.12.2022)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?218979
Literatur
[Civ19] Friedemann Brockmeyer, Katja Bürger, Tarik Shah, Stefan Weigele, Julian Zuber Das beste Angebot ist nicht der Preis
Der "Wiener Weg": Weit mehr als die 365-Euro-Jahreskarte, civity Management Consultans, Hamburg, 2019
[Civ20] Stefan Weigele Ergebnisse der Prüfung zur Einführung eines 365-Euro-Jahrestickets für den ÖPNV, civity Management Consultants, Hamburg, 2020/09/15
[Tlu21] Tom Tlusteck Untersuchung aktueller finanzieller Rahmenbedingungen für den öffentlichen Verkehr in Deutschland, 2021
Glossar
Motorisierter Individualverkehr Als motorisierter Individualverkehr (MIV) wird die Nutzung von Pkw und Krafträdern im Personenverkehr bezeichnet. Der MIV, als eine Art des Individualverkehrs (IV), eignet sich besonders für größere Distanzen und alle Arten von Quelle-Ziel-Beziehungen, da dieser zeitlich als auch räumlich eine hohe Verfügbarkeit aufweist. Verkehrsmittel des MIV werden von einer einzelnen Person oder einem beschränkten Personenkreis eingesetzt. Der Nutzer ist bezüglich der Bestimmung von Fahrweg, Ziel und Zeit frei (örtliche, zeitliche Ungebundenheit des MIV).
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
Verkehrswende
Mit der Verkehrswende in Deutschland wird das Ziel verfolgt, den Verkehrssektor bis spätestens 2050 klimaneutral zu gestalten. Dazu sollen die anfallenden Treibhausgasemissionen möglichst vollständig vermieden und verbleibende Restemissionen durch die Entnahme von Treibhausgasen aus der Atmosphäre ausgeglichen werden. Die Verkehrswende lässt sich in zwei parallellaufende Entwicklungen gliedern: die Mobilitätswende und die Energiewende im Verkehr (auch Antriebswende genannt).

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?519107

Gedruckt am Freitag, 29. März 2024 14:24:32