Handlungsoptionen in Bezug auf die Teilhabe
Erstellt am: 19.12.2019 | Stand des Wissens: 15.01.2025
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In den vergangenen Jahren sind die Energie- und Kraftstoffpreise angestiegen, wobei im Frühjahr 2022 ein außergewöhnlicher Preissprung zu verzeichnen war. Wirtschaftsverbände führen diesen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zurück, der Ende Februar begann. [dpa22] Der Hauptgrund für die Preissteigerung liegt jedoch weder am globalen Rohölpreis noch an den Steuern. Vielmehr treiben die Gewinne der Ölkonzerne die Kraftstoffpreise in die Höhe. [Diek22]
Der Preisanstieg trifft besonders diejenigen Menschen, die wenig Einkommen haben und auf einen Pkw als Hauptverkehrsmittel angewiesen sind. Schätzungsweise sind in Deutschland 5 Prozent der Bevölkerung einkommensarm und haben gleichzeitig keine Alternative zum Pkw. Sie befinden sich in der Situation einer alternativlosen Autoabhängigkeit oder 'Forced Car Ownership'. Auch die Tarife des Öffentlichen Nahverkehrs steigen, und das im Langzeitvergleich sogar deutlich stärker als die Kosten für den Kauf und Unterhalt von Pkw. [BMVI19am,Matti17]
Zusätzlich ist davon auszugehen, dass auf Grund steigender Energie- und Kraftstoffpreise einerseits und sinkender Bevölkerungs- und somit Versorgungsdichte in ländlichen Räumen andererseits mobilitätsbedingte soziale Exklusion in Zukunft verstärkt zur Herausforderung wird. Hiervon werden nicht nur, aber verstärkt Menschen abseits größerer Städte betroffen sein. Daher sollten die Ziele, Mobilität zu ermöglichen und Daseinsvorsorge zu sichern, gleichsam verfolgt werden. Es gibt somit zwei grundsätzliche Handlungsebenen für die Stärkung mobilitätsbedingte Teilhabe, die monetäre und die planerische [FGSV15b].
Monetäre Maßnahmen setzen bei den Kosten für die Verkehrsmittelnutzung an. Sie können einerseits die Nutzungskosten bestimmter Verkehrsmittel senken beispielsweise durch eine erweiterte Subventionierung des ÖPNV-Betriebes. Im Rahmen der Daseinsvorsorge wurden ÖPNV-Angebote im Jahr 2018 bundesweit zu etwa einem Viertel durch die öffentliche Hand bezuschusst (durchschnittlicher Kostendeckungsgrad der deutschen ÖPNV Unternehmen: 74,4 Prozent, wobei in diesem Betrag auch öffentliche Mittel etwa für die bestellten Verkehrsleistungen stecken [Dzia20]; Werte für einzelne Unternehmen schwanken jedoch stark). Zu Anfang der Covid-19-Pandemie mussten die Verkehrsunternehmen zeitweise einen Rückgang der Fahrgastzahlen um die Hälfte verzeichnen, wodurch die Länder und Kommunen zusätzlich unter Finanzierungsdruck stehen [FoSc20].
Eine Senkung der Fahrpreise bis hin zu einem vollständig kostenlosen ÖPNV (einhergehend mit einem dann gegebenenfalls stark erhöhte Subventionsbedarf) wurde im Jahr 2018 im Zusammenhang mit den EU-weiten Verpflichtungen zur Luftreinhaltung diskutiert [NAW19]. Mit Verweis auf soziale Auswirkungen sowie auf den Klimaschutz kann auf Österreich verwiesen werden. In Wien (seit 2012) und Salzburg (seit 2022) gilt das 365-Euro-Ticket, das für diesen Betrag zur ganzjährigen Nutzung des ÖPNV berechtigt. Diese Maßnahme ist allerdings hinsichtlich ihrer Lenkungswirkung vom Pkw zum ÖPNV umstritten. [Daub22] Auch ist sie im Sinne der Teilhabesicherung nicht zielgerichtet, sondern betrifft einkommensstarke wie einkommensschwache Personen gleichermaßen.
Um die Bevölkerung von steigenden Energiepreisen zu entlasten, verabschiedete die Bundesregierung im März 2022 ein "Entlastungspaket" das unter anderem das 9-Euro-Ticket umfasste: Für drei Monate kostete der ÖPNV bundesweit nur 9 Euro im Monat. [BMF22b] Diese Maßnahme war sehr populär, da das 9-Euro-Ticket einfach verständlich und sehr günstig war. 98 Prozent der Bevölkerung in Deutschland kannten das Angebot und es wurde durch etwa 33 Millionen Menschen genutzt, was einem guten Drittel der Bevölkerung in Deutschland entspricht. [Gro23] Menschen mit geringem Einkommen beschrieben das 9-Euro-Ticket laut verschiedener Erhebungen als eine erhebliche Erleichterun in ihrem Alltag. [Abe22, Hil22] Neben dem günstigen Ticket umfasste das Entlastungspaket eine Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe sowie Einmalzahlungen für Angestellte und Arbeitssuchende. [BMF22b]
Noch während der dreimonatigen Gültigkeit des 9-Euro-Tickets baute sich der politische Druck auf, einen Nachfolger für das populäre bundesweite Ticket zu schaffen. Dies wurde mit dem Deutschlandticket für 49 Euro im Monat ab Mai 2023 umgesetzt. Ab Januar 2025 kostet das Deutschlandticket monatlich 58 Euro [PuIBund24]. Allerdings ist das Deutschlandticket nicht so intuitiv nutzbar wie das 9-Euro-Ticket. Es ist nur im Abonnement erhältlich und muss i.d.R. bis zum 10. eines Monats gekündigt werden. [ADAC24e] Insbesondere für Einkommensarme ist es etwas komplizierter, denn ein bundesweites Sozialticket gibt es nicht. Stattdessen gelten mindestens 15 verschiedene Sozialtickets (Abb. 1). Einige erlauben eine lokale ÖPNV-Nutzung (etwa für monatlich 25 Euro in Bremen, aber nicht Bremerhaven), andere gelten bundesweit (etwa für 15 Euro in Freiburg, 19 Euro in Hamburg). [Abe23]
Für das erste Gültigkeitsjahr hat die Bundesregierung das Deutschlandticket finanziert, doch die mittelfristige Zukunft des Angebots ist offen. Befürchtet wird, dass durch das Pauschalangebot mehrere Milliarden Euro jährlich aus dem ÖPNV-System gezogen werden, die bisher aus den Fahrgeldeinnahmen stammten. Diese, so die Bedenken, fehlen jetzt für den Ausbau des Nahverkehrs, den es für eine Dekarbonisierung des Verkehrssektors bräuchte, um die verbindlichen Pariser Klimaziele zu erreichen. [ago22]
![Abb. 1: Bundesweite Übersicht über Sozialtickets, die das Deutschlandticket ergänzen [Eintrag-Id:576723] Grafik CA.png](/servlet/is/507149/Grafik%20CA.png)
In finanzieller Hinsicht wird somit das Maß von mobilitätsbedingter sozialer Ausgrenzung zumindest an den Orten mit einem Sozialticket unmittelbar und schnell verringert. In Freiburg oder Hamburg beispielsweise bedeutet das Sozialticket einen enormen Gewinn an Mobilitätschancen für einen niedrigen Preis [Abe23]. Allerdings kann dieser Ansatz nur dann effektiv sein, wenn angebotsseitig das Verkehrssystem und die Erreichbarkeit von Orten der Daseinsvorsorge entsprechenden Anforderungen genügen.
Daher sind auch planerische Maßnahmen notwendig, die das Verkehrssystem und die Raumstruktur entsprechend gestalten. Ihr Ziel sind Veränderungen, die es Menschen ermöglichen, ihre alltäglichen Bedürfnisse mit möglichst geringem Verkehrsaufwand zu befriedigen. [VCD21a] Relevante Ansätze in der Stadt- und Regionalplanung sind die Stadt der kurzen Wege, qualifizierte Siedlungsdichte und Funktionsmischung [Spektrum]. Darüber hinaus können Mobilitätsangebote optimiert werden. In diesen Bereich fallen (zeitlich) flexible, bedarfsorientierte oder on-demand-Dienste öffentlicher oder öffentlich beauftragter Anbieter, aber auch selbstorganisierte Projekte wie Bürgerbusse. [BMDV24aj, Munv] Die Verbesserung der Infrastruktur für aktive Mobilität ist ein weiteres Element. Gerade in Kombination mit dem öffentlichen Verkehr kann das Fahrrad, das als E-Bike oder Pedelec zunehmend für weitere Strecken und mehr Zielgruppen nutzbar wird, ein wichtiges Mobilitätswerkzeug sein. Voraussetzung hierfür sind sichere und direkte Routen sowie diebstahlgesicherte Abstellmöglichkeiten am Start und Zielort der Fahrradfahrt. [ADFC20a]
Weitere planerische Maßnahmen zielen auf das Mobilitätsverhalten ab. Sie bauen Zugangshürden ab, indem beispielsweise ältere Personen an das Busfahren herangeführt werden. Auch Radfahrtrainings für ältere Menschen (die länger nicht mehr Rad gefahren sind oder auf elektrisch unterstütze Räder umsteigen) und jene, die wenig oder keine Raderfahrung haben (etwa Migrantinnen, die in ihrem Heimatland nicht radfahren gelernt haben; [EHM13]) sind in diesem Bereich relevante Angebote.
Strategien, um mobilitätsbedingte Exklusion zu bekämpfen, sind somit akteursübergreifend. Während beispielsweise Subventionen von staatlichen Institutionen auf unterschiedlicher Ebene gewährt werden (EU, Bund, Land, Kommune), sind an der Ausgestaltung des Verkehrsangebots sowohl Kommunen als auch die Verkehrsverbünde und -unternehmen beteiligt. Bei Maßnahmen, die auf das Mobilitätsverhalten abzielen, werden zudem weitere Akteure wie ortsansässige Arbeitgeber und Interessensverbände eingebunden.