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Handelspolitik im Luftverkehr

Erstellt am: 06.02.2018 | Stand des Wissens: 18.07.2023

Synthesebericht gehört zu:

Der internationale Handel mit Luftverkehrsdienstleistungen wird durch das Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt aus dem Jahr 1944 (Chicago-Regime) und die auf seiner Basis vereinbarten bilateralen oder multilateralen Luftverkehrsabkommen geregelt. Er unterliegt damit nicht den allgemeinen Regeln der internationalen Welthandelsorganisation (WTO), die ansonsten für den Großteil des Welthandelsvolumens zuständig ist. In dem WTO-Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services, GATS) werden zwar einige Teilaspekte der Luftverkehrsmärkte geregelt, vorrangig allerdings sogenannte "soft rights". Diese beinhalten Regelungen für die Wartung und Reparatur von Flugzeugen, für Marketing und Verkauf von Luftverkehrsdiensten und bezüglich der Computer-Reservierungssysteme. Nicht enthalten sind sogenannte "hard rights", die das zentrale Segment der Luftverkehrsdienste abdecken, nämlich den Transport von Personen und Waren und damit verbundene Regelungen zu Start- und Landerechten. Für diese gilt deshalb auch nicht das allgemeine WTO-Regime für den Fall wettbewerbsverzerrender Praktiken (Agreement on Subsidies and Countervailing Measures). Auch die Luftverkehrsabkommen enthalten solche Regeln üblicherweise nicht.
In der Luftfahrtbranche der Europäischen Union (EU) wie auch der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) geht derzeit die Angst vor der dynamisch wachsenden Konkurrenz durch Fluggesellschaften aus einer Reihe von Schwellenländern um. Diese kommen vor allem aus Ländern des Nahen Ostens (die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und die Türkei) und des Fernen Ostens (insbesondere die Volksrepublik China sowie auch Indien), weshalb sie im Folgenden als "asiatische Fluggesellschaften" zusammengefasst werden. Für die europäischen Fluggesellschaften besteht die Konkurrenzsituation nicht auf innereuropäischen, sondern auf internationalen Flugmärkten, das heißt den Verbindungen zwischen Ländern der EU und Ländern außerhalb der EU. Zu diesen Märkten haben aufgrund vorhandener Luftverkehrsabkommen sowohl die europäischen als auch die asiatischen Fluggesellschaften Zugang [EU L 28/21].
Die neuen Konkurrenten können in zwei Gruppen unterteilt werden. Die eine Gruppe sind Fluggesellschaften aus aufstrebenden, großflächigen Schwellenländern (zum Beispiel Volksrepublik China, Türkei sowie auch Brasilien), die über einen großen und wachsenden Binnenmarkt verfügen und deren nationale Flugmärkte sich ebenso entwickeln wie ihre internationalen Anbindungen. Die Fluggesellschaften dieser Länder können von der hohen Zahlungsbereitschaft europäischer und US-amerikanischer Kundinnen und Kunden im internationalen Segment profitieren. Dies missfällt den Fluggesellschaften der EU und der USA, die den Vorwurf erheben, dass diese Schwellenländer ihre Fluggesellschaften im internationalen Segment unterstützen würden, ohne ihre eigenen Binnenmärkte ausreichend zu öffnen.
Die andere Gruppe von Konkurrenten sind Fluggesellschaften der Golfstaaten (teilweise ähnlich auch der Türkei), welche eine günstige geografische Lage für Transitverkehre zwischen den Wirtschaftszentren Europa und Ostasien/Südasien (sowie abgeschwächt auch zwischen der Ostküste Nordamerikas und Ostasien/Südasien) aufweisen. Diese Schwellenländer verfügen nicht über einen großen Binnenmarkt, sondern streben ein exportgeleitetes Wachstum an. Insofern ähneln sie den vier "kleinen Drachen" oder "Tigerstaaten" der 1980er Jahre (Taiwan, Südkorea, Singapur und Hongkong), doch im Gegensatz zu diesen setzen sie nicht auf die damaligen Wachstumsbranchen Stahl, Schiffbau und Elektronik, sondern auf die Branchen Tourismus, Flugdienste und andere Transport- und Logistikdienste. Ebenso wie damals die aggressive, sektoral fokussierte und exportorientierte Politik der "Tigerstaaten" auf Widerstand der entsprechenden Branchen in den Importländern stieß und protektionistische Gegenmaßnahmen provozierte, ist dies heute auch bei den Golfstaaten im Flugsektor der Fall.
Den Golfstaaten wird vorgeworfen, ihre Fluggesellschaften massiv staatlich zu unterstützen, zum Beispiel in Form von zinslosen Krediten, direkten Kapitalzuwendungen und verbilligtem Zugang zur Infrastruktur (hohe Subventionen für nationale Hub-Flughäfen gepaart mit geringen Flughafengebühren dort). Daneben wird die starke Verflechtung von Luftverkehrsunternehmen, Infrastrukturbetreibern, Dienstleistern und Staat bemängelt. Nach einer Studie, die von US-Airlines im Jahr 2015 beauftragt wurde, belaufen sich die Subventionen und unerlaubten Beihilfen auf über 40 Milliarden US-Dollar im Zeitraum der Jahre von 2004 bis 2014 [ROS15]. Ähnliche Vorwürfe werden gegen die großen Schwellenländer erhoben, zusätzlich zum Vorwurf des eingeschränkten Marktzugangs zu diesen Ländern (Vergabe von Slot-Rechten, spezielle Steuern, nicht-preisliche Diskriminierungen) [EuKom18f].
In Reaktion darauf erließ die EU die Verordnung Nummer 868/2004, in der die Kommission ermächtigt wird, Abhilfemaßnahmen zu ergreifen, wenn diskriminierende Praktiken von gemeinschaftsfremden Ländern die Wettbewerbsstellung von Luftverkehrsgesellschaften der EU beeinträchtigen. Die Verordnung listet wettbewerbsverzerrende Formen von Subventionierungen und Preisbildungspraktiken (Artikel 4 und 5). Allerdings wurde diese Verordnung bisher nie angewendet. Politischen Deutungen zufolge liegt dies zum einen daran, dass die nach dieser Verordnung notwendigen Beweise für ein Verfahren schwer beizubringen sind, und zum anderen daran, dass weder einzelne Airlines noch EU-Mitgliedstaaten dazu befugt sind, ein Verfahren anzustoßen [EU 868/2004].
Mit der Verabschiedung der Verordnung [EU/2019/712] wurde die bisherige EU-Verordnung 868/2004 aufgehoben und durch die neue ersetzt sowie modernisiert. Nun können Verfahren auch aufgrund von Beschwerden eines EU-Mitgliedstaates, eines Luftfahrtunternehmens oder eines Verbandes von Luftfahrtunternehmen eingeleitet werden. Die Kommission ist bemächtigt, die notwendigen Informationen einzuholen, zu bewerten und, falls Informationen von Drittländern nicht zur Verfügung gestellt werden, auch auf Basis vorhandener Informationen Abhilfemaßnahmen zu verhängen. Als mögliche Abhilfemaßnahmen werden finanzielle Auflagen genannt oder operative Maßnahmen, wie die Aussetzung von Zugeständnissen, von geschuldeten Leistungen oder von anderen Rechten [2017/0116(COD)]. Die Maßnahmen sollen den Effekt der wettbewerbsverzerrenden Praktiken neutralisieren, aber nicht darüber hinausgehen.
Bei dieser rechtlichen Konstruktion orientiert sich die EU an den allgemeinen Prinzipien der WTO, dem Agreement on Subsidies and Countervailing Measures gegen wettbewerbsverzerrende Praktiken in anderen Branchen. Die EU tritt zudem dafür ein, dass entweder der Handel mit Flugdiensten in das allgemeine WTO-Regime mit aufgenommen oder das Chicago-Regime des Flugsektors entsprechend weiterentwickelt werden sollte.
Aus einer ökonomischen Bewertung heraus werden wettbewerbsverzerrende Praktiken von Staaten im Grundsatz oft abgelehnt. Wenn die Androhung von Gegenmaßnahmen durch die EU (und die USA) zur Folge hat, dass andere Staaten wettbewerbsverzerrende Praktiken beenden oder reduzieren, dann kann diese Androhung zu mehr Wettbewerb beitragen. Auch die tatsächliche Implementierung von Gegenmaßnahmen kann sich dahingehend auswirken, wenn sie wettbewerbsverzerrende Wirkungen neutralisiert [EuPa18b].
Aus einer vergleichenden Perspektive ist hingegen zu bedenken, dass Subventionstatbestände im Transportsektor nicht unüblich sind (in der EU zum Beispiel für Eisenbahn, Nahverkehr oder Binnenschifffahrt). Auch innerhalb der EU werden Flughäfen subventioniert, was indirekt den einheimischen Luftverkehrsunternehmen zugutekommt. Erst seit dem Jahr 2014 existiert eine Regulierung solcher Subventionen innerhalb der EU, und bis zum Jahr 2024 läuft noch die Übergangsfrist bis zu ihrem vollen Inkrafttreten. Zudem ist der Zugang ausländischer Luftverkehrsunternehmen zur EU insbesondere aufgrund von limitierten Flugrechten in den Luftverkehrsabkommen beschränkt. Bei dem wichtigen Zugang zu den europäischen Kundinnen und Kunden mit hoher Zahlungsbereitschaft wird daher bereits ein wettbewerbsverzerrender Tatbestand zu Ungunsten der asiatischen Fluggesellschaften festgestellt. In einer Begründung und Bemessung von Gegenmaßnahmen der EU könnten diese und andere wettbewerbsverzerrende Praktiken der EU-Staaten selbst quantifiziert und gegengerechnet werden. Daher bleibt offen, ob die Verordnung wirklich angewandt und zur Ergreifung ausgewogener Maßnahmen führen wird.
Zudem besteht ein größerer Kontext: Seit einiger Zeit ist ein Konsolidierungsprozess unter den europäischen Luftverkehrsunternehmen zu beobachten, der auf eine Minderung der Wettbewerbsintensität hinausläuft. Dabei geht es den großen, konsolidierten europäischen Luftverkehrsunternehmen insgesamt wirtschaftlich gut. Für die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Volkswirtschaften der EU ist es deshalb ökonomisch wünschenswert, wenn der Markt durch zusätzliche ausländische Konkurrenz belebt wird, wenigstens bei den internationalen Flügen. Nicht zuletzt spielt bei der Entscheidung über Gegenmaßnahmen auch das allgemeine wirtschaftliche Interesse der EU am weiteren Wachstum der Schwellenländer und an guten wirtschaftlichen Beziehungen zu ihnen eine Rolle. Protektionistische (Gegen-)Maßnahmen können volkswirtschaftliche und politische Schäden verursachen, wenn daraus Handelskonflikte entstehen. Die Art des Umgangs der Europäischen Kommission mit ihren Luftverkehrsrechten wird darüber entscheiden, welche Auswirkungen die Verordnung insgesamt haben wird.
Glossar
Ansprechperson
M-Five GmbH Mobility, Futures, Innovation, Economics
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Luftverkehrspolitik (Stand des Wissens: 12.07.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?184144
Literatur
[EuKom18f] Europäische Kommission SWD/2018/110 Commission staff working document impact assessment accompanying the document Proposal for a regulation of the European Parliament and of the council..., 2018/04/18
[EuPa18b] Europäische Parlament (Hrsg.) Competition in Air Transport, 2018/01/24
[ROS15] The Need to Address Subsidized Competition from State-Owned Airlines in Qatar and the UAE, 2015/01/28
Rechtsvorschriften
[2017/0116(COD)] 2017/0116(COD) Safeguarding competition in air transport
[EU/2019/712] Verordnung des Europäisches Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 zur Sicherstellung des Wettbewerbs im Luftverkehr und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 868/2004
[EU 868/2004] Regulation of the European parliament and the council No 868/2004
[EU L 28/21] Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinigten Arabischen Emiraten über bestimmte Aspekte von Luftverkehrsdiensten
Glossar
Hub Der Begriff Hub kommt vom englischen Begriff "Hub and Spoke", was im Deutschen "Nabe und Speiche" entspricht. Der Hub dient als Sammel- und Knotenpunkt für Hauptverkehrswegen für den Umschlag und die Zusammenfassung von Warenströmen in alle Richtungen, d.h. zur Warenübergabe an regionale Verteiler. Im Postwesen handelt es sich bei Hubs häufig um Paketzentren. Die Transportmittel zur weiteren Beförderung der Sendungen variieren (Schiffe, Flugzeuge, Lkw).

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?478917

Gedruckt am Sonntag, 23. Februar 2025 09:39:26