Standards und Normen als Ausgangspunkt zuverlässiger automatisierter Systeme im Straßenverkehr
Erstellt am: 14.06.2017 | Stand des Wissens: 06.10.2023
Synthesebericht gehört zu:
Aufgrund der steigenden Komplexität und Sicherheitsrelevanz künftiger Fahrzeugarchitekturen wird es voraussichtlich nicht mehr möglich sein, Fahrzeugsysteme lückenlos zu testen. Infolgedessen sollen Sicherheitsstandards bereits während der Entwurfsphase der Systeme angewendet werden [JoMi15, S. 77]. Die weltweite Entwicklungspartnerschaft AUTomotive Open System ARchitecture (AUTOSAR) befasst sich deshalb mit der Standardisierung der grundlegenden Software-Funktionalitäten von automobilen Steuergeräten und unterstützt bei deren Anwendung. Die Partnerschaft besteht aus Fahrzeugherstellern, Zulieferern und Unternehmen aus der Elektronik-, Halbleiter- und Softwareindustrie, darunter auch deutsche Firmen wie BMW, Daimler oder Volkswagen [AOSA01; AOSA03].
Im Bereich des Straßenverkehrs sind zwei relevante Industriestandards vorhanden. Automotive Software Process Improvement and Capability Evaluation (ASPICE) ist ein Standard für die Bewertung der Reife von Systementwicklungsprozessen, der auf dem Standard ISO/IEC 15504 basiert und bei dem die Software den Schwerpunkt bildet. Dieser Standard ist seit 2007 verbindlich einzuhalten und definiert sechs Reifegrade, wobei sowohl ein spezifisches Produkt als auch der gesamte Systementwicklungsbereich geprüft werden können. Die Prüfung erfolgt dabei in Form einer Bewertung durch unabhängige Assessoren [JoMi15, S. 79 ff.]. Eine neue Version von ASPICE ist seit Dezember 2023 verfügbar [ASPICE23].
Darüber hinaus stellt ASPICE eine wichtige Grundlage für den Standard ISO 26262 (Funktionale Sicherheit, auch FuSi-Standard, englisch Functional Safety for Road Vehicles) dar, dessen erste Version 2011 veröffentlicht wurde. Im Unterschied zu ASPICE befasst sich ISO 26262 sowohl mit der Software als auch mit der Hardware. Der Standard definiert ein Rahmenwerk für die systematische Risikoanalyse und -vermeidung. Dabei wird ein entwickeltes System dahingehend klassifiziert, wie wichtig die Zuverlässigkeit des Systems ist. Die Einstufung und Bewertung erfolgt anhand des sogenannten Automotive Safety Integrity Level (ASIL), der auf Grundlage der Faktoren Eintrittswahrscheinlichkeit (Häufigkeit einer potenziellen sicherheitsrelevanten Fehlfunktion, englisch Exposure), Beherrschbarkeit (potenzielle Fähigkeit des Systems, die Folgen der Fehlfunktion zu beherrschen, englisch Controllability) und Schwere des Fehlers (Auswirkung der Fehlfunktion, wenn sie nicht beherrschbar ist, englisch Severity) ermittelt wird. Die Einstufung erfolgt ebenfalls im Rahmen einer Bewertung. Im Rahmen der Risikoanalyse werden mehrere systematische Verfahren herangezogen, beispielsweise die Failure Mode and Effects Analysis (FMEA) oder die Fault Tree Analysis (FTA) [JoMi15, S. 83 f.]. Dabei werden für jedes riskante Ereignis Sicherheitsziele ("Safety Goals") definiert, die jeweils mit einer ASIL-Einstufung verbunden sind. Darauf aufbauend wird ein umfassendes Sicherheitskonzept ("Functional Safety Concept") erarbeitet, mit dessen Hilfe analysiert wird, wie die Sicherheitsziele innerhalb des Systementwurfs realisiert werden können.
Neben diesen beiden Standards sind auch für die straßenbauliche Infrastruktur Standards vorhanden, welche in der Straßenverkehrsordnung (StVO) oder in weiterführenden Richtlinien beschrieben sind. Dazu zählen Standards für Beschilderungen (§ 39 (2) StVO), Fahrbahnmarkierungen (§ 39 (5) StVO) und Leiteinrichtungen (§ 43 (3) StVO), welche für die sichere Spurführung automatisierter Fahrzeuge zu gewährleisten sind. Ebenso gilt für die Schaltzustände von Lichtsignalanlagen (§ 37 StVO), welche für eine effiziente Fahrstrategie automatisierter Fahrzeuge von Bedeutung sind [Lemm16a, S. 68 f.].
Des Weiteren existiert eine Reihe weiterer Standards, die eine wichtige Rolle für die Zuverlässigkeit im Straßenverkehr spielen. Im Bereich der informations- und kommunikationstechnischen Infrastruktur sind in diesem Kontext Standards zu nennen, die angesichts der zunehmenden Automatisierung und im Zuge der Vernetzung zwischen den Fahrzeugen (Car-to-Car (C2C)- beziehungsweise Car-to-Infrastructure (C2I)-Kommunikation) immer bedeutender werden. Dabei sind drei verschiedene Technologien relevant: Wireless Local Area Network (WLAN), Mobilfunk und Broadcast. Die verschiedenen Standards sollen in Abhängigkeit von ihren spezifischen Stärken und Schwächen für unterschiedliche Anwendungen zum Einsatz kommen und sich bei Ausfall zum Teil auch gegenseitig ersetzen können [InWe16a].
Für die Kommunikation zwischen einem Fahrzeug und der verkehrstechnischen Infrastruktur wurde eine speziell auf die Bedürfnisse der Fahrzeugkommunikation angepasste Spezifikation der bekannten WLAN-Variante (802.11a-Standard) entwickelt, welche unter der Bezeichnung 802.11p (WLAN 11p) bekannt ist [Lemm16a, S. 70]. Bei dieser Spezifikation wird auf zeitaufwendige Authentifizierungsmechanismen verzichtet. Dies ermöglicht eine direkte Kommunikation, was hohe Übertragungsgeschwindigkeiten (zwischen drei und 27 Megabit pro Sekunde) sowie eine robuste Datenübertragung auch bei höheren Geschwindigkeiten, stärkerem Verkehrsaufkommen und über möglichst große Fahrzeugabstände hinweg zulässt [Lemm16a, S. 70; InWe16a]. Zu den potenziellen Anwendungen dieser Kurzstreckenkommunikation für höher automatisierte Fahrzeuge zählen Fahrerinformationen und -warnungen für Sicherheitsanwendungen (Notbremsungen und Informationen zu Fahrabsichten) und kooperative Verkehrseffizienzanwendungen (virtuelle Verkehrsschilder, Geschwindigkeitsempfehlungen oder Lichtsignalanlagen-Steuerung) sowie lokale Dienste (Parkplatzmanagement oder Manöverabstimmung) [Lemm16a, S. 71; InWe16a].
Der derzeitige Mobilfunkstandard zur Übertragung von Multimediadaten trägt die Bezeichnung 4G und ist die Schlüsseltechnologie für die grundlegende Breitbandvernetzung der Infrastruktur [Lemm16a, S. 71]. Die kurz vor der Einführung stehende nächste Mobilfunkgeneration 5G soll eine besonders hohe Übertragungsgeschwindigkeit (10 Gigabit pro Sekunde) besitzen, die geringe Latenzzeit (eine Millisekunde) und die hohe Verfügbarkeit gehören zu ihren Vorteilen [InWe16a; NDR17a]. Anwendung findet diese Langstreckenkommunikation typischerweise in Telematikdiensten, in der Navigation, bei Notrufen per Electronic-Call sowie Baustellen- und Stauwarnungen [InWe16a].
Eine weitere Kommunikationstechnologie ist im Bereich Broadcast (Digitalradio) angesiedelt, in den Digital Audio Broadcasting (DAB), DAB+, Digital Multimedia Broadcasting (DMB) und DAB-Internetprotokoll (IP) fallen. Diese Technologie ist für die Verbreitung von Verkehrsinformationen (Routenplanung/ Navigation oder Zusatzinformationen zum Parken) relevant, die derzeit noch großteils über den analogen Ultrakurzwellen-(UKW)-Rundfunk ausgestrahlt werden und demzufolge nur in einem vergleichsweise geringen Ausmaß genutzt werden. Zu den Vorteilen dieser Technologie zählen die robuste Übertragung und die im Vergleich zum UKW-Rundfunk deutlich höhere Datenrate, wobei Letztere wesentlich geringer ausfällt als bei WLAN oder Mobilfunk. Die Kommunikation erfolgt im Bereich Broadcast jedoch nur in einer Richtung, sodass Fahrzeuge jeweils nur als Empfänger fungieren [Lemm16a, S. 72 f.].