Analyse und Bewertung der Angebotsqualität als Schlüssel zur Beurteilung der Erschließungsqualität des Schienenpersonenfernverkehrs
Erstellt am: 02.05.2013 | Stand des Wissens: 26.10.2018
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Entscheidend für die Auswahl eines geeigneten Analysemodells zur Untersuchung und Beurteilung der Angebotsqualität des Schienenpersonenfernverkehrs (SPFV) ist die Ausrichtung der Zielstellung der Untersuchung. Viele Bewertungsverfahren beschäftigen sich lediglich mit Teilkomponenten des gesamten Verkehrsangebots, das für den Fahrgast aber nur in seiner Gesamtheit nutzbar und von Belang ist. So steht bei der Deutschen Bahn (DB AG) in Bezug auf die Steigerung der Attraktivität ihrer SPFV-Angebote häufig ausschließlich der erreichte Reisezeitgewinn durch einzelne Neubaustrecken (NBS) im Mittelpunkt der Betrachtungen [Bung11; DBAG12u]. Zahlreiche Studien beschäftigen sich mit speziellen Aspekten der sogenannten materiellen Infrastruktur, wie etwa dem Zustand des Schienenfahrwegs oder von Bahnhöfen. Beispielhaft sei hier eine Studie des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg zum Netzzustand (Netzzustandsbericht 2009) genannt [VBB09]. Eine seriöse Beurteilung der Qualität des SPFV-Angebots kann auch durch die zur Verfügung stehenden Mittel limitiert sein, da ausführliche Studien mit größerer Untersuchungstiefe und -breite in der Regel zeit- und kostenintensiv sind. Fragestellungen hinsichtlich der Angebotsqualität können aus erwähnten Gründen häufig nur auf Basis einiger weniger Indikatoren (zum Beispiel Reisezeit) untersucht und beurteilt werden. "Auch ist eine gewisse Diskrepanz zwischen Forschung und Politik wahrnehmbar: Integrale Erreichbarkeitsmodelle mit hoher Datenbasis und hohem Komplexitätsgrad müssen häufig aus Gründen der besseren Kommunizierbarkeit der Anwendung von einfacheren Erreichbarkeitsindikatoren weichen. Eine Vielzahl von Studien arbeitet deshalb mit partiellen, unimodalen Indikatoren" [EvEb11].
Indexbildung
Die Beurteilung der Erschließungsqualität einer Stadt oder Region durch bestehende oder auch theoretisch angenommene Schienenfernverkehrsangebote kann mit Hilfe vergleichender Indizes sinnvoll bewerkstelligt werden. Dabei wird die Qualität der nach außen (outbound accessibility) oder nach innen gerichteten Erreichbarkeit (inbound accessibility) von Orten bzw. Regionen auf Basis des vorhandenen Eisenbahn-Verkehrsangebots anhand multimodaler Indikatoren untersucht und in einen Index umgerechnet. Mit diesem Index kann dann die Qualität der Erreichbarkeit bzw. Erschließung einzelner Orte oder Regionen in Relation zum gesamten Verkehrs- oder Bundesgebiet ausgedrückt werden [Bung11; HeBo12]. Die Aussagefähigkeit eines solchen Index steigt mit der Anzahl der berücksichtigten Potential- bzw. Widerstandsindikatoren. Hierzu zählen, neben dem häufig ausschließlich berücksichtigten Fahrzeitindikator, weitere Indikatoren der für Fahrgäste besonders wichtigen immateriellen Infrastruktur, wie etwa Fahrplangestaltung, Preissystem und Service.
Um die Bedeutung von Qualitätskriterien im immateriellen Bereich des Verkehrsangebots statistisch angemessen abbilden zu können, bedarf es geeigneter statistischer Analyseverfahren, die imstande sind, mehrere unter Umständen hierarchisch gestaffelte Indikatoren statistisch berücksichtigen zu können. In diesem Zusammenhang weisen Erreichbarkeitsmessungen mit nutzenbasierten Indikatoren und multivariaten Synthesemethoden zur Indexbildung gegenüber konventionellen Analyseverfahren theoretische wie empirische Vorteile auf. Innerhalb der Synthesemethoden liefert, neben Verfahren der direkten Befragungen zur Bedeutung von Qualitätsdimensionen oder statistischen Zufriedenheitsanalysen, vielfach die Discrete Choice-Analyse (zum Beispiel hierarchische Conjoint-Analyse) die aussagekräftigsten Ergebnisse. [Bung11; HeBo12; HeEv12]
Ein Beispiel für die Bewertung eines SPFV-Netzes mit Hilfe eines Attraktivitätsindexes liefert die Arbeit von Bertard. Hier wird zur Beurteilung der Angebotsqualität des französischen SPFV-Netzes (im Bestand sowie im optimierten Planfall) ein Attraktivitätsindex herangezogen. Er berechnet sich als Quotient des in Geldeinheiten ausgedrückten Widerstands der Bahnfahrt sowie der Entfernung zweier Städte. Der Widerstand setzt sich zum einen aus dem Fahrkartenpreis, zum anderen aus der Fahr-, Warte- und Umsteigezeit (jeweils mit einem Zeitwert multipliziert) zusammen. Zunächst werden lediglich Verbindungen zwischen Städtepaaren betrachtet. Aus den berechneten Attraktivitätsindizes kann dann als ihre gewichtete Summe ein Netzattraktivitätsindex bestimmt werden sowie jeweilige Attraktivitätsindizes einzelner Städte. Letztere stellen dann eine Maßzahl für die SPFV-Erreichbarkeit der jeweiligen Stadt dar. [Bert13, S. 28 ff.]