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Praxisbeispiele zu Shared Space

Erstellt am: 16.01.2012 | Stand des Wissens: 13.06.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike

In den europäischen Nachbarländern gibt es ein weites Spektrum an Umsetzungsformen und Planungen, welche die Shared Space-Idee umsetzen, verfolgen oder in Ansätzen integrieren. Auch in der Bundesrepublik Deutschland gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Bestrebungen, Projekte und Entwurfsarbeiten, die dem Shared Space-Ansatz folgen. Im Folgenden sind Beispiele mit Shared Space-Charakteristik in Deutschland dargestellt.
"Stern" in Brühl
Der Platz vor der Giesler-Galerie in Brühl (Nordrhein-Westfalen) wird als "Stern" bezeichnet, da in diesen insgesamt fünf Straßen mit ihren Zufahrten in den Platz münden. Er wird mit dem Zeichen 325 "verkehrsberuhigter Bereich" der Straßenverkehrsordnung (StVO) beschildert. Durch rote Pflasterbänder quer zur Fahrbahn werden die Übergänge in diesen Bereich an allen Zufahrten kenntlich gemacht. Diese dienen zugleich als Querungsstellen für den Fußverkehr. Den Fußgängerinnen und Fußgängern wird der Aufenthalt auf dem "Stern" überall ermöglicht. Die Laufrichtungen und die überfahrbaren Flächen des Platzes sind durch die farbliche Anordnung der Pflastersteine in Form von Gittern stark gegliedert. Der Platz ist niveaugleich gestaltet, wobei der Fahrzeugverkehr durch Poller und Absperrgitter, die mit hell reflektierenden Streifen ausgestattet sind, stark kanalisiert wird. Für blinde und seheingeschränkte Personen sind jedoch keine ausreichenden Leit- und Auffangstreifen eingebaut. Auf dem "Stern" sind keine Flächen zum Parken vorgesehen. Weiterhin gilt die Rechts-vor-Links-Regelung [ADAC09b; Or11].
Der Verkehrsraum "Stern" wird durch den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) genutzt. Er wird durch Standardbusse in fast alle Richtungen befahren. Der Straßenraum am Stern entspricht nach [RASt06] einer Hauptgeschäftsstraße der Kategorie HS IV. Die Höchstgeschwindigkeit im Annäherungsbereich an den Platz beträgt 30 Kilometer pro Stunde [IGS09; ADAC09b].
Bezüglich der Verkehrssicherheit konnte nach dem Umbau ein Rückgang der Unfallzahlen festgestellt werden. Waren es im Vorher-Zeitraum von 2004 bis 2005 noch 9 Unfälle, waren es im Nachher-Zeitraum von 2007 bis 2008 nur noch 6 Unfälle. Vor allem konnte die Anzahl der Unfälle mit Schwer- und Leichtverletzten deutlich reduziert werden. Beachtenswert beim Vergleich der Unfallzahlen ist ebenfalls, dass der Bereich vorher durch einen Kreisverkehr geregelt wurde, welcher ohnehin als sehr verkehrssicher gilt[Or11; IGS09; ADAC09b].
Opernplatz in Duisburg
Das bekannteste Shared Space-Beispiel der Stadt Duisburg ist der "Opernplatz". Vor der Umgestaltung überfuhren den Platzbereich zirka 18.000 Kraftfahrzeuge am Tag. Der Fahrbahnbereich war als sechsspuriger Straßenquerschnitt inklusive mittigem Grünstreifen ausgestaltet. Insgesamt ging von diesem Abschnitt eine starke Trennwirkung aus [Höl10].
Seit dem Jahr 2007 ist das innerstädtische Areal auf der Landfermannstraße trotz der nunmehr vorhandenen Verkehrsmenge von zirka 13.700 Kraftfahrzeugen am Tag als "verkehrsberuhigter Bereich" (Zeichen 325 StVO) ausgeschildert. Auf sichtbehindernde Einbauten oder Bepflanzungen wurde genauso verzichtet wie auf das Anlegen von Stellplätzen für den ruhenden Verkehr. Die Platz- und Verkehrsflächen sind weitgehend niveaugleich ausgestaltet, lediglich Rinnen und Flachborde gliedern die Verkehrsfläche. Der Fahrbahnbereich ist nur noch zweistreifig ausgestaltet. In mittiger Lage befindet sich ein 0,5 bis 1,0 Meter breiter Mittelstreifen, welcher taktil erfassbar ist und der dem Fußgängerverkehr das Queren erleichtert [Or11].
Der zentrale Abschnitt gegenüber dem Eingang zum Theater wurde als Querungsstelle über eine Breite von etwa 20 Meter vollständig niveaugleich ausgeführt, um so vor allem den Ansprüchen gehbehinderter Personen gerecht zu werden. Die Übergangsbereiche unterliegen keiner besonderen Ausgestaltung. Im Anschluss an den verkehrsberuhigten Bereich wird der Querschnitt durch Aufweitung an den vorhandenen Straßenraum angepasst. Belastbare Aussagen über die Verkehrssicherheit am Opernplatz können nicht getroffen werden, da zwar die Unfallanzahl rückläufig ist, die Unfälle aber tendenziell schwerer sind [Or11]. Laut einer Umfrage der Stadt Duisburg wird die Neugestaltung des Opernplatzes von Duisburgern als eine gelungene städtebauliche Aufwertung wahrgenommen [Höl10].
Neue Straße in Ulm
In Folge des Zweiten Weltkrieges wurde die "Ulmer Mitte" fast vollständig zerstört und das freiliegende Areal zum Bau einer leistungsfähigen und großzügigen Verkehrsverbindung genutzt: die Neue Straße. Eine derartige Verkehrsverbindung mitten durch die Innenstadt wurde in den Jahren des Wiederaufbaus als unabdingbar für den wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand der Stadt erachtet [Ulm12; Ulm12a]. Mit der Zunahme des Kraftfahrzeugverkehrs, insbesondere durch die einsetzende Massenmotorisierung, stieg ebenso der Anteil des Durchgangsverkehrsaufkommens auf der Neuen Straße. Die Straßenverkehrsanlage wurde zu einer immer stärkeren Trennlinie inmitten des Stadtkerns von Ulm. Die baulichen Ausmaße, die Verkehrsbelastung, der Verkehrslärm und die Abgasentwicklung wurden zu einer erheblichen Belastung für die Fußgängerinnen und Fußgänger Ulms und führten zu kultureller und wirtschaftlicher Verödung des angrenzenden Areals.
Bereits in den 1970er Jahren bestanden Bestrebungen, das Zentrum der Stadt Ulm "wiederzubeleben". Diese Idee setzte sich ab 1995 endgültig durch und führte im Jahr 2000 zu einem entsprechenden Beschluss durch den Gemeinderat [Ulm12; Ulm12b; Ulm12c, Ulm12d].
Verkehrliche Neubaumaßnahmen leiteten den Durchgangsverkehr um die Ulmer City herum mit der Folge des Rückgangs des Kraftfahrzeugverkehrs um 30 Prozent. Im Zuge des Projektes "Neue Mitte" wurde die Neue Straße einer Umgestaltung unterzogen [Ulm12a]. Die mit der Neukonzeption verbundenen Ziele waren [Ulm12]:
  • Stärkung der Hauptfußgängerbeziehung,
  • Rückgewinnung der städtischen Lebensqualität und
  • funktionsgerechte Umgestaltung entsprechend der aus der zentralen Lage folgenden Nutzungsansprüche.
Neben der erzielten Verbesserung vor allem der Aufenthaltsqualität können, in Anlehnung an die Shared Space-Philosophie, die folgenden Gestaltungselemente als charakteristische Merkmale aufgezeigt werden:
  • einheitliche Farbgebung der Fahrbahn- und Gehwegbereiche,
  • Trennwirkung allein durch Materialwechsel und
  • 3 Zentimeter hoher Flachbord als begrenzende Elemente.
Wegen der hohen Verkehrsbelastung wird den Zufußgehenden ein Mittelstreifen als Querungshilfe angeboten und der Kraftfahrzeugverkehr durch zusätzliche Leitelemente geführt.
Marktplatz in Schönebeck (Elbe)
Ein im Jahr 2016 realisiertes Projekt befindet sich im Zentrum der Stadt Schönebeck, unweit der Landeshauptstadt Magdeburg und ist das erste Shared Space-Projekt Sachsen-Anhalts [NSS16]. Der Marktplatz in der Altstadt (zirka 5.000 Quadratmeter Fläche) war vor dem Umbau von einem hohen Schwer- und Durchgangsverkehr sowie einem hohen Gebäudeleerstand geprägt und wurde durch eine Umgestaltung nach dem Shared Space-Prinzip wiederbelebt [Wilm16].
Im Fokus stand "die Bildung einer einheitlichen Platzfläche, welche durch Bäume und Elemente, wie den Marktbrunnen, Sitzmöglichkeiten und das Wasserspiel strukturiert wird" [NSS16].
Darüber hinaus verfügt der Platz über ein Leitsystem für blinde und sehbehinderte Personen (Noppen- und Rillenplatten) [Wilm16]. Der Eingangsbereich ist durch eine Profilierung der Platzfläche gekennzeichnet, wodurch den Verkehrsteilnehmenden der Beginn des Shared Space-Bereichs signalisiert wird [NSS16]. Beginn und Ende des Marktplatzes sind, wie in den anderen Beispielen, ebenfalls durch das Zeichen 325 nach StVO ("verkehrsberuhigter Bereich") gekennzeichnet und wurden durch das Hinweisschild "Shared Space" ergänzt. Abgesehen von den ausweispflichtigen Parkplätzen wurden auf weitere Beschilderungen im Shared Space-Bereich verzichtet. Der Platz ist auf Fahrzeuge bis zu einem zulässigen Gesamtgewicht von 3,5 Tonnen beschränkt. Von dieser Regelung sind Betriebs-, Versorgungs- und Lieferfahrzeuge sowie der ÖPNV ausgenommen [Wilm16].
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Straßenräume mit hohem Aufenthalts- und Querungsbedarf (Stand des Wissens: 13.06.2023)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?375535
Literatur
[ADAC09b] Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e.V., Shared Space - Mehr Sicherheit durch weniger Regeln im Verkehr?, München, 2009
[Höl10] Hölters, C. Gemeinschaftsplätze in Duisburg - Der Prozess von der Idee zum Bau, veröffentlicht in Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt der Freien und Hansestadt Hamburg , Hamburg, 2010
[IGS09] Gerlach, J., Kesting, T., Kettler, D., Leven, J., Boenke, D. Voraussetzungen für die Umsetzung von Gemeinschaftsstraßen in Weiterentwicklung des Shared Space-Prinzips unter Beachtung der großstädtischen Rahmenbedingungen der Freien und Hansestadt Hamburg, Neuss, 2009
[NSS16] Schönebeck (Elbe), 2016/05/26
[Or11] Ortlepp, Jörg, Erfahrungen mit "Shared Space" und "Gemeinschaftsstraßen" in Deutschland, Berlin, 2011/10/06
[RASt06] Baier, Reinhold, et al. Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen - RASt 06, Ausgabe/Auflage 2006, Köln, 2007, ISBN/ISSN 978-3-939715-21-4
[Ulm12] Stadt Ulm Ulm Neue Mitte, 2012
[Ulm12a] Stadt Ulm Neue Straße. Lösungen, 2012
[Ulm12b] Stadt Ulm Neue Straße. Problem, 2012
[Ulm12c] Stadt Ulm Neue Straße. Konzept - Tunnel oder Tiefgarage, 2012
[Ulm12d] Stadt Ulm Neue Straße - Ulm, 2012
[Wilm16] Lisa Wilm Mit Mut durchgesetzt. Umgestaltung Marktplatz, Schönebeck (Elbe), veröffentlicht in Freiraumgestalter, Ausgabe/Auflage 02/2016, 2016/02
Weiterführende Literatur
[GDV11] Ortlepp, Jörg, Bogner, Jennifer, Eberling, Patrick Gemeinschaftsstraßen. Attraktiv und sicher, Berlin, 2011/10, ISBN/ISSN 978-3-939163-41-1
[StVO] Straßenverkehrs-Ordnung (StVO)
Glossar
Querungsanlage
Querungsananlagen beinhalten alle Maßnahmen an Fahrbahnen, die es insbesondere Fußgänger*innen ermöglichen, die Fahrbahn sicherer, schneller und komfortabler zu überqueren. Darunter fallen:
Bauliche Maßnahmen: Verschmälerung von Fahrstreifen, Rücknahme der Fahrstreifenanzahl, Verkehrsinseln, Teilaufpflasterungen, Vorziehen der Seitenräume, Gehwegnasen, Bordsteinabsenkungen, räumliche Trennung von nichtmotorisiertem und motorisiertem Verkehr, et cetera
Betriebliche Maßnahmen: Fußgängerüberwege (Zebrastreifen), Fußgängerfurten, Lichtsignalanlagen
Zusätzliche Maßnahmen: Tempolimits, Geschwindigkeitsüberwachung, Verkehrszeichen, Markierungen, gelbe Blinklichter, et cetera
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
StVO Die Straßenverkehrsordnung  legt Regeln für sämtliche Straßenverkehrsteilnehmer fest und bildet somit eine Rechtsverordnung der Bundesrepublik Deutschland.
City Der in der Stadtforschung und im allgemeinen Sprachgebrauch für die Kennzeichnung des Stadtzentrums meist größerer Städte verwendete Begriff City ist nicht eindeutig, da er im Englischen eine völlig andere Bedeutung hat. Im englischen Sprachgebrauch kann der Begriff City für drei verschiedene Varianten stehen:
  1. allgemein für eine Großstadt,
  2. für eine historische Stadt mit Bischofssitz und Kathedrale,
  3. für eine Stadt mit königlicher Urkunde und zeremoniellen Privilegien.
Der deutsch Begriff der City leitet sich aus der frühen Konzentration von Bürofunktionen in der historischen City of London ab, da sich dort bereits im 18. Jahrhundert mit dem aufkommenden und rasch entfaltenden Banken- und Versicherungswesen der neue Typ des Bürohauses herausbildete, der den Prozess der Citybildung enorm beschleunigte. In erster Linie ist City ein Funktionsbegriff. Die City ist der zentralst gelegene Teilraum einer größeren Stadt mit einer räumlichen Konzentration hochrangiger zentraler Funktionen des tertiären und quartären Sektors.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?375515

Gedruckt am Freitag, 29. März 2024 01:17:00