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Infrastrukturelle Maßnahmen zu einer Geschwindigkeitserhöhung im Schienenverkehr

Erstellt am: 01.07.2011 | Stand des Wissens: 19.07.2019
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky

Um die intermodale Wettbewerbsposition der Eisenbahn zu stärken, entwickelten sich Geschwindigkeitserhöhungen im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einer maßgebenden Zielgröße bei der Planung beziehungsweise bei dem Neu- und Ausbau von Schienenverkehrsstrecken [Ango06, S. 57 f.]. Die auf einer Eisenbahnstrecke mit Hilfe der gesteigerten Fahrgeschwindigkeit erreichte Verkürzung der Fahr- und somit auch Beförderungszeit haben einen positiven Einfluss auf die Attraktivität des auf ihr möglichen Verkehrsangebots. Sowohl für den Schienenpersonen- als auch den Schienengüterverkehr stellen Beschleunigungsmaßnahmen ein geeignetes Marketinginstrument dar, um zusätzliche Fahrgäste beziehungsweise. Kunden zu gewinnen [Brei06, S. 253 f.]. Für die Realisierung einer möglichst geringen Fahrzeit ist jedoch nicht die erreichbare Höchstgeschwindigkeit auf einem bestimmten Streckenabschnitt maßgebend, sondern die auf den gesamten Fahrtverlauf bezogene realisierbare durchschnittliche Beförderungsgeschwindigkeit. Um diese zu steigern, ist ein ganzes Bündel von infrastrukturellen Maßnahmen notwendig.
Soll die örtlich zulässige Geschwindigkeit angehoben werden, sind primär bauliche Anlagen anzupassen. In erster Linie ergibt sich dabei die Notwendigkeit, stark verzögernde Beschränkungen im niedrigen Geschwindigkeitsbereich (zum Beispiel 40 km/h anstatt 60 km/h) zu beseitigen. Hierdurch können mitunter signifikante Fahrzeitverkürzungen erreicht werden, welche deutlich höher ausfallen als mittels einer partiellen Anhebung der Höchstgeschwindigkeit im oberen Geschwindigkeitsbereich. Eine durchgängige Anpassung der Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h auf 300 km/h bewirkt bei Vernachlässigung der erforderlichen Beschleunigungs- und Bremswege erst ab einer Fahrtstrecke ab 25 Kilometer eine Minute Fahrzeitgewinn [Weig07, S. 31]. Zeitersparnisse im niedrigen Geschwindigkeitsbereich sind in der Regel meist kostengünstiger umzusetzen und erhöhen den Energieverbrauch der Fahrzeuge weit weniger stark als dies im Hochgeschwindigkeitsbereich der Fall ist.

Linienkorrektur und -verbesserung

Kleinere bauliche Anpassungen an vorhandener Infrastruktur, die zu einer Steigerung der Beförderungsgeschwindigkeit führen, werden Linienkorrekturen genannt. Maßnahmen größeren Umfangs bezeichnet man hingegen als Linienverbesserungen [Weig07, S. 31]. Maßnahmen der Linienkorrektur sind häufig kleinere Eingriffe in die Infrastruktur. Dazu können unter anderem folgende Maßnahmen gezählt werden:

  • Vergrößerung der Gleisüberhöhung in Bögen und von Bogenradien selbst
  • Verschwenkung von Geraden vor Bögen
  • Anwendung von Ausnahmewerten für Trassierungselemente
  • Verkürzung der Signalabstände
[Weig07, S. 31 f.]

Die Anwendung von Zustimmungs- beziehungsweise Ausnahmewerten bei der Auslegung einzelner Trassierungselemente ist jedoch nur in begründeten Ausnahmefällen zulässig. Während Zustimmungswerte eine unternehmensinterne Genehmigung durch die Zentrale der DB Netz AG erfordern, setzen Ausnahmewerte ein Einverständnis des Eisenbahn-Bundesamtes beziehungsweise der Landesbehörden voraus [DBNAG09, S. 3; Matt07, S. 67].

Abbildung 1 zeigt beispielhaft einen Ausschnitt aus dem Geschwindigkeitsband der Ausbaustrecke Ingolstadt - Petershausen, bei der unter anderem die Vergrößerung der Gleisüberhöhung im Rahmen einer Linienverbesserung praktiziert wurde. Durch die Behebung eines engen Bodenradius konnte der Geschwindigkeitseinbruch von 160 km/h auf 120 km/h beseitigt und eine Geschwindigkeitsharmonisierung erzielt werden. [NiLö09, S. 556 ff.]
Abbildung 1: Geschwindigkeitsband Ingolstadt-Rohrbach [NiLö09, S. 558] (Grafik zum Vergrößern bitte anklicken)

Weitere infrastrukturelle Maßnahmen

Auch der Querverschiebewiderstand des Gleisbetts ist bei hohen Geschwindigkeiten von großer Bedeutung, da dieser zu verstärkten dynamischen Lasten im Oberbau führt. Ein seitliches Ausknicken der Schwellen aufgrund der höheren Kräfte ist auch unter diesen Bedingungen zu verhindern. Einen geeigneten Ansatz hierfür bietet der Einbau von sogenannten festen Fahrbahnen, welche höhere Querkräfte aufnehmen können als Betonschwellen eines Schotteroberbaus. [Lich10, S. 310 f.]

Bei Geschwindigkeitserhöhungen über 160 km/h ist in Deutschland das Zugsicherungssystem Punktförmige Zugbeeinflussung (PZB) nicht mehr hinreichend. Entsprechende Strecken müssen daher mit einer Linienförmigen Zugbeeinflussung (LZB) oder dem European Train Control System (ETCS) ausgerüstet werden. [MuFr05, S. 524; FiSc12, S. 234; § 15 Abs. 3 EBO].

Ferner erweisen sich Bahnübergänge auf mit mehr als 160 km/h befahrenen Schienenwegen gemäß der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) als unzulässig [§ 11 Abs. 2 EBO]. Dies hat zur Folge, dass betreffende Beschleunigungsmaßnahmen nur dann realisiert werden können, wenn sämtliche Bahnübergänge durch Über- oder Unterführungen ersetzt sind.

Um die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf elektrifizierten Strecken anzuheben, ist es außerdem notwendig, die Oberleitung an die hierdurch induzierten erhöhten Belastungen anzupassen. Aufgrund größerer Fahrdrahtschwingungsamplituden müssen die Leitungsmastabstände bei höheren Geschwindigkeiten verringert werden. Außerdem ist die Fahrdrahtspannung den steigenden Kräften entsprechend zu erhöhen. [MuFr05, S. 542 f.]

Fahrzeugtechnische Maßnahmen

Eine weitere Möglichkeit, auf Bestandsstrecken höhere Beförderungsgeschwindigkeiten zu realisieren, ergibt sich durch den fahrzeugseitigen Einsatz der sog. Neigetechnik. Dabei neigt sich das Fahrzeug in Bögen zur Bogeninnenseite und verringert so die auf Reisende im Fahrzeuginnenraum wirkende freie Seitenbeschleunigung, sodass unter Einhaltung des Grenzwertes eine höhere Fahrgeschwindigkeit möglich ist. Die höhere Belastung des Fahrwegs hat jedoch zur Folge, dass im Falle eines Neigetechnikeinsatzes der Oberbau konstruktiver Anpassungen bedarf, welche insbesondere den Querverschiebewiderstand betreffen. Die durch den beschriebenen Ansatz erzielbaren Geschwindigkeitserhöhungen können eine Größenordnung von maximal 40 Prozent beziehungsweise 40 km/h einnehmen. Der Einsatz von Neigetechnik ist im Geschwindigkeitsbereich zwischen 70 km/h und 160 km/h sinnvoll und technisch möglich. [Lich10, S. 362; MuFr05, S. 100; FiSc12, S. 50 f.]
Ansprechpartner
Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr.-Ing. Dirk Wittowsky
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Das Schienennetz der Bundesrepublik Deutschland (Stand des Wissens: 19.07.2019)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?359042
Literatur
[Ango06] Angoiti, Ignacio Barrón de Fahrzeitverkürzung auf konventionellen Strecken, veröffentlicht in ETR, Ausgabe/Auflage 01-02/206, DVV Media Group GmbH, Hamburg, 2006/01, ISBN/ISSN 0013-2845
[Brei06] Breimeier, Rudolf Grundsätze der Planung von Neu- und Ausbaustrecken in Deutschland, veröffentlicht in ZEVrail, Ausgabe/Auflage 06-07/2006, Georg Siemens Verlag, Berlin, 2006/06, ISBN/ISSN 1618-8330
[DBNAG09] DB Netz AG Richtlinie 800.0110 - Linienführung, 2009/08/01
[FiSc12] Fiedler, Joachim, Scherz, Wolfgang Bahnwesen - Planung, Bau und Betrieb von Eisenbahnen, S-, U-, Stadt- und Straßenbahnen, Werner Verlag, Köln, 2012
[Lich10] Lichtberger, Bernhard, Dr. Handbuch Gleis - Unterbau, Oberbau, Instandhaltung, Wirtschaftlichkeit, Ausgabe/Auflage 3. Auflage, DVV Media Group GmbH / Hamburg , 2010, ISBN/ISSN 978-3-7771-0400-3
[Matt07] Matthes, Volker Bahnbau, Ausgabe/Auflage 7. Auflage, Vieweg + Teubner Verlag, Wiesbaden, 2007, ISBN/ISSN 978-3-8351-0013-8
[MuFr05] Freystein, Hartmut, Muncke, Martin, Schollmeier, Peter Handbuch Entwerfen von Bahnanlagen, Ausgabe/Auflage 1, Eurailpress Tetzlaff-Hestra, 2005, ISBN/ISSN 3-7771-0333-0
[NiLö09] Nied, Joachim, Löns, Wolfgang, Ritzert, Jörg Ausbau der Strecke Ingolstadt-Petershausen - Projektziele und aktueller Sachstand, veröffentlicht in Eisenbahntechnische Rundschau, Ausgabe/Auflage 10/2009, DVV Media Group GmbH / Hamburg , 2009/10, ISBN/ISSN 0013-2845
[Weig07] Weigend, Manfred Trassierung und Gleisplangestaltung, veröffentlicht in Handbuch Eisenbahninfrastruktur, Springer-Verlag / Berlin, Heidelberg, 2007, ISBN/ISSN 354029581
Weiterführende Literatur
[Fied05] Fiedler, Joachim, Prof. Dr.-Ing. Bahnwesen, Ausgabe/Auflage 5. Auflage, Werner Verlag, 2005/03, ISBN/ISSN 3-8041-1612-4
[EBO] Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO)
Glossar
Linienförmige Zugbeeinflussung Unter linienförmiger Zugbeeinflussung versteht man ein System zur Sicherung des Fahrens im festen Raumabstand. Die Informationsübertragung zwischen Infrastruktur und Fahrzeug erfolgt kontinuierlich. LZB-Systeme arbeiten generell mit Führerraumsignalisierung. Somit kann während des Regelbetriebes auf ortsfeste Signale verzichtet werden, sie dienen lediglich als Rückfallebene im Störungsfall.
Ausbaustrecke Als Ausbaustrecken (ABS) werden im Bereich des spurgebundenen Verkehrs bestehende Netzabschnitte bezeichnet, die mittels umfangreicher Baumaßnahmen für höhere Kapazitäten und / oder Geschwindigkeiten ertüchtigt wurden. Häufig findet der Begriff im Zusammenhang mit für den Einsatz von Neigetechnikfahrzeugen angepassten Strecken Verwendung. Durch eine geeignete bauliche Auslegung des Fahrweges ermöglicht dieses System entsprechend ausgestatteten Triebwagen schnellere Gleisbogendurchfahrten, m. a. W. höhere Kurvengeschwindigkeiten.
Schienengüterverkehr
Unter Schienengüterverkehr (SGV) wird der Transport von Gütern mit der Eisenbahn verstanden. Diese werden in Güterzügen unter Verwendung (spezieller) Güterwagen befördert. Diese Verkehre können entweder auf gesonderten Güterverkehrsstrecken oder im Mischverkehr, auf gemeinsam durch den Güter- und Personenverkehr genutzten Strecken, realisiert werden. Leistungen des Schienengüterverkehrs werden häufig als Teil einer Logistikkette in logistische Gesamtkonzepte eingebunden.
ETCS
Standard eines EU-weit harmonisierten Zugbeeinflussungssystems, welches im Falle einer entsprechenden Streckeninfrastrukturausstattung und Fahrzeugertüchtigung die unterbrechungsfreie Durchführung grenzüberschreitender Schienenverkehre ermöglicht, ohne zu diesem Zweck das triebfahrzeugseitige Mitführen unterschiedlicher, auf nationaler Ebene verwendeter Systemkomponenten vorauszusetzen.

Mit Hilfe von Zugbeeinflussungssystemen lassen sich auf dem Streckennetz stattfindende Fahrten beispielsweise hinsichtlich einer Einhaltung erlaubter Höchstgeschwindigkeiten oder der Befolgung signalisierter Befehle überwachen, um gegebenenfalls automatische Schutzreaktionen auszulösen. So können etwa Triebfahrzeuge, welche ein Halt zeigendes Signal überfahren, selbsttätig zum Stillstand gebracht werden.

In Zukunft wird der automatische Zugbetrieb (Automatic Train Operation, ATO) auf Grundlage des ECTS gebaut.
Punktförmige Zugbeeinflussung Die im Schienenverkehr verwendete punktförmige Zugbeeinflussung ist eine diskontinuierliche Methode zur Sicherung des Fahrens im festen Raumabstand. Die Zugbeeinflussung erfolgt ortsfest, daher punktförmig. Ihr Einsatz ist nur bis zu einer Höchstgeschwindigkeiten von 160 km/h zulässig.
Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung Die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) ist eine Verordnung für den Bau und Betrieb regelspuriger Eisenbahnen in Deutschland. Sie gilt nicht für den Bau, den Betrieb oder die Benutzung der Bahnanlagen eines nichtöffentlichen Eisenbahninfrastrukturunternehmens.
Eisenbahn-Bundesamt Das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) ist Aufsichts- und Genehmigungsbehörde für die Eisenbahnen des Bundes und Eisenbahnunternehmen mit Sitz im Ausland für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Es nimmt darüber hinaus die Landeseisenbahnaufsicht über die nichtbundeseigenen Eisenbahnen auf Weisung und Rechnung von 13 Bundesländern für diese wahr.
Feste Fahrbahn Unter dem Begriff Feste Fahrbahnwird im allgemeinen ein Oberbau von Schienenfahrwegen verstanden, bei dem der herkömmliche Schotter durch ein anderes Material (insbesondere Beton oder Asphalt) ersetzt wird, welches im Gegensatz zum Schotter nur geringe Verformungen aufweist. Die geforderte Elastizität wird bei der FF durch Verwendung von elastischen Materialien zwischen Schiene und Schwelle und/oder unter der Schwelle (so genannte Zwischenlagen) erreicht.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?356114

Gedruckt am Montag, 29. Mai 2023 01:57:45