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Intelligente Verkehrssysteme für den öffentlichen Verkehr

Erstellt am: 19.01.2011 | Stand des Wissens: 30.12.2021
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechpartner
Bauhaus-Universität Weimar, Professur Verkehrssystemplanung, Prof. Dr.-Ing. Plank-Wiedenbeck

Intelligente Verkehrssysteme (IVS) können die vier folgenden Aufgaben im öffentlichen Verkehr (ÖV) besitzen:
340219_Telematik-Aufgaben_2020-03-07.pngAbb. 1: Aufgabenbereiche für Telematikanwendungen (eigene Darstellung)
Die Aufgabe der Sicherung und Steuerung von Verkehrssystemen wird von IVS insbesondere im Bereich des spurgeführten Verkehrs wahrgenommen. Bei den spurgeführten Verkehrsmitteln muss in Deutschland zwischen dem Geltungsbereich der Eisenbahnbetriebsordnung (EBO) und dem Geltungsbereich der Verordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen (BOStrab) unterschieden werden.
Im Geltungsbereich der EBO erfolgt das Fahren im Blockabstand (fester Abstand zwischen zwei Zügen), da die Länge der Bremswege ein Fahren auf Sicht lediglich in Ausnahmezuständen (zum Beispiel bei Baumaßnahmen oder besonderen Ereignissen) gestattet [Goll18]. Daher wird die Leit- und Sicherungstechnik zur Einstellung und Sicherung der Fahrtwege sowie zur Signalisierung von Fahrbefehlen genutzt. Die Signalisierung kann dabei über am Gleis befindliche Signale oder auf dem Führerstand erfolgen. Zudem kann der Zugführende über Zugbeeinflussungssysteme überwacht und gegebenenfalls eine Notbremsung eingeleitet werden. Dabei werden punktuelle und lineare Zugbeeinflussungssysteme unterschieden, deren Einsatz von der zulässigen Streckengeschwindigkeit abhängig ist [VDB]. Da sich diese Systeme bei den nationalen Bahnen entwickelten, wurde für Europa mit den European Train Control System eine einheitliche Lösung in drei Ausbaustufen geschaffen [DBNe14].
Im Geltungsbereich der BOStrab erfolgt die Fahrt auf Sicht [BOStrab]. Daher kann im Vergleich zum Geltungsbereich der EBO eine deutlich vereinfachte Sicherung vorgenommen werden, die in erster Linie schlecht einsehbare Bereiche und eingleisige Strecken sowie den Verschluss der Weichen (Verhinderung des Umstellens der Weiche unter dem Fahrzeug) umfasst. Die Signalisierung ist an die des Straßenverkehrs angelehnt, jedoch teilweise mit anderen Symbolen realisiert, um Verwechslungen vorzubeugen. Für den straßengeführten ÖV sind sicherheitsrelevante IVS insbesondere in Bezug auf Lichtsignalanlagen (LSA) derzeit in der Entwicklung. Diese Systeme sollen als Nothaltassistent bei einer möglichen Überfahrung von Rot-zeigenden LSA-Phasen Verwendung finden [BMVIT06].
Der Einsatz von IVS zur betrieblichen Leitung erfolgt für alle öffentlichen Verkehrsmittel. Im Bahnverkehr können die zur Sicherung eingesetzten Signale ebenfalls betriebliche Informationen übertragen wie beispielsweise eine Geschwindigkeit, die aus betrieblichen Gründen unter der Streckengeschwindigkeit liegt. Zudem verfügen die Zugbegleiter über Kommunikationsmöglichkeiten, um weitergehende aktuelle Informationen zum Beispiel zur Anschlussgewährung zu erhalten.
Für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) werden diese Systeme meist unter dem Begriff des rechnergestützten Betriebsleitsystems beziehungsweise Intermodal Transport Control System (ITCS) zusammengefasst. Dabei dient das System hauptsächlich der Überwachung der aktuellen Fahrzeugpositionen und zur Disposition bei Störungen. Das ITCS kann für den ÖPNV durch eine Bevorrechtigungsschaltung an LSA erweitert werden [BMVIT06].
Fahrgastinformationssysteme dienen zur Übermittlung von ÖV-spezifischen sowie Infotainment-Inhalten. Als ÖV-spezifisch können dabei aktuelle Fahrplanlagen beziehungsweise Verspätungen angesehen werden. Unter die Rubrik Infotainment fallen dagegen alle für den Fahrgast bereitgestellten Informationen und Nachrichten, die für die betrieblichen Prozesse des ÖV nicht relevant sind, aber als Serviceleistungen zum Beispiel der Kundenzufriedenheit und -bindung dienen.
Neben IVS bei der Bezahlung kommen zunehmend mobile Fahrkarten Lösungen (Mobile Ticketing) zum Einsatz. Diese Anwendungen werden vorwiegend als Kernapplikation durch den Verband Deutscher Verkehrsunternehmen spezifiziert. Zielsetzung des Mobile Ticketing ist eine Reduzierung der Kosten für Systeme zur Fahrscheinerstellung und eine fairere Verrechnung mit dem Kunden.
Um die digitale Vernetzung im Öffentlichen Personenverkehr zu verbessern, hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2015 die Initiative "Digitale Vernetzung im Öffentlichen Personennahverkehr" gestartet, für welche Mitte 2016 eigens eine Roadmap herausgegeben wurde [BMVI16g]. Hierzu wurde im Dezember 2020 eine Neuauflage (Roadmap 2.0) veröffentlicht [DVOV20]. Des Weiteren wurde ein Vernetzungsleitfaden erarbeitet [DVOV20a]. "Kernelement ist ein Dialog- und Stakeholderprozess mit Vertretern der Länder, der Aufgabenträger, der Kommunen, der Verkehrsunternehmen und -verbünde, der Industrie sowie der Verbraucherverbände." [BMVI16h]. Die dafür notwendingen Fördermittel wurden durch die Förderrichtlinie "eTicketing und digitale Vernetzung im Öffentlichen Personenverkehr" bereitgestellt [BMVI16].  
Ansprechpartner
Bauhaus-Universität Weimar, Professur Verkehrssystemplanung, Prof. Dr.-Ing. Plank-Wiedenbeck
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Verkehrstelematik (Stand des Wissens: 21.08.2021)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?340318
Literatur
[BMVI16g] Bundesministerium für Digitales und Verkehr, Akteure des Dialog- und Stakeholderprozesses im Rahmen der Initiative Digitale Vernetzung im Öffentlichen Personenverkehr (Hrsg.) Roadmap: Digitale Vernetzung im öffentlichen Personenverkehr, 2016/07
[BMVI16h] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (Hrsg.) Initiative Digitale Vernetzung im Öffentlichen Personenverkehr, 2016
[BMVIT06] Ausserer, Karin , Risser, Ralf , Turetschek, Christine, Reiss-Enz, Viktoria Verkehrstelematik - der Mensch und die Maschine, 2006/02
[DBNe14] DB Netz AG (Hrsg.) European Train Control System (ETCS) bei der DB Netz AG, 2014/04
[DVOV20] Akteure des Dialog- und Stakeholderprozesses im Rahmen der Initiative "Digitale Vernetzung im Öffentlichen Personenverkehr" (Hrsg.) Digitale Vernetzung im Öffentlichen Personenverkehr - Roadmap 2.0 (Langfassung), 2020/12
[DVOV20a] Akteure des Dialog- und Stakeholderprozesses im Rahmen der Initiative Digitale Vernetzung im Öffentlichen Personenverkehr (Hrsg.) Digitale Vernetzung im Öffentlichen Personenverkehr - Vernetzungsleitfaden, 2020/12/10
[Goll18] Golling, Johannes Fahren im Raumabstand, 2018/02/23
[VDB] Verband der Bahnindustrie in Deutschland (VDB) e.V. (Hrsg.) Zugbeeinflussungssysteme: Sicherheitsnetz des Schienenverkehrs, 2017
Rechtsvorschriften
[BMVI16] Förderrichtlinie "eTicketing und digitale Vernetzung im Öffentlichen Personenverkehr"
[BOStrab] Verordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen (Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung - BOStrab)
[EBO] Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO)
Glossar
ETCS
Standard eines EU-weit harmonisierten Zugbeeinflussungssystems, welches im Falle einer entsprechenden Streckeninfrastrukturausstattung und Fahrzeugertüchtigung die unterbrechungsfreie Durchführung grenzüberschreitender Schienenverkehre ermöglicht, ohne zu diesem Zweck das triebfahrzeugseitige Mitführen unterschiedlicher, auf nationaler Ebene verwendeter Systemkomponenten vorauszusetzen.

Mit Hilfe von Zugbeeinflussungssystemen lassen sich auf dem Streckennetz stattfindende Fahrten beispielsweise hinsichtlich einer Einhaltung erlaubter Höchstgeschwindigkeiten oder der Befolgung signalisierter Befehle überwachen, um gegebenenfalls automatische Schutzreaktionen auszulösen. So können etwa Triebfahrzeuge, welche ein Halt zeigendes Signal überfahren, selbsttätig zum Stillstand gebracht werden.

In Zukunft wird der automatische Zugbetrieb (Automatic Train Operation, ATO) auf Grundlage des ECTS gebaut.
ITS Intelligent Transportation Systems (ITS) ist der Oberbegriff für Transportsysteme, die Informations- und Kommunikationstechnologie zur Unterstützung des Betriebes einsetzen. ITS-Funktionen unterstützen den Fahrer eines Transportmittels, sie sind damit deutlich von automatischen Transportsystemen zu differenzieren, die auf einen fahrerlosen Betrieb abstellen. Die wichtigsten neuen und zum Teil noch in Entwicklung befindlichen Anwendungsfelder zielen auf (1) Verkehrs- und Transportmanagement (Verkehrsinformationen, Verkehrslenkung, Verkehrs- und Parkleitsysteme, automatische Unfallmeldungen, Meldesysteme zum Gefahrgutmonitoring); (2) Elektronische Systeme zur Gebührenerhebung; (3) Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel (dynamische Fahrgastinformationen, Reservierung, spezifische Informationssysteme für Fahrradfahrer und Fußgänger, Steuerung individueller öffentlicher Verkehrsmittel); (4) Systeme zur Unterstützung der Fahrzeugsicherheit (Kollisionsdetektoren, Sektorisierung von Verkehrswegen).
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
Leit- und Sicherungstechnik
Unter dem Begriff der Leit- und Sicherungstechnik (LST) werden technische Maßnahmen zusammengefasst, die getroffen werden, um einen sicheren, meist signalgeführten Eisenbahnbetrieb durchzuführen. Sie regelt die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen den Anlagen, den Signalen und den Fahrzeugen, die zur sicheren Durchführung von Zug- und anderen Fahrten notwendig sind. Wichtigster Bestandteil der LST ist die Stellwerkstechnik, mit Hilfe derer das Stellen von Weichen und Signalen sowie die Sicherung von Fahrstraßen erfolgt. Zur LST gehört auch die Zugbeeinflussung (z. B. PZB, LZB, ETCS).
LSA Lichtsignalanlagen (LSA) dienen der Steuerung des Straßenverkehrs. Sie ordnen für Verkehrsteilnehmer ein bestimmtes Verhalten an, indem sie gesteuerte Signale abgeben. Umgangssprachlich werden sie auch häufig Ampeln genannt.
Aufgabenträger
Aufgabenträger bestellen bei den Verkehrsunternehmen die im Rahmen der Daseinsvorsorge gewünschten Nahverkehrsleistungen. Dabei gibt es Unterschiede zwischen dem Schienenpersonennahverkehr (SPNV) und dem straßengebundenen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV).
Im SPNV sind seit Bahnreform und ÖPNV-Regionalisierung im Jahr 1995/96 anstelle des Bundes die Länder für die Planung, Organisierung und Finanzierung verantwortlich. In einigen Ländern sind die Aufgabenträger für das gesamte Land zuständig, wie in Bayern, in anderen betreuen sie regional abgegrenzte Gebiete, wie in Nordrhein-Westfalen. Teilweise wird die Aufgabenträgerschaft den Verkehrsverbünden zugewiesen, wie in Hessen.
Die Aufgabenträgerfunktion für den straßengebundenen ÖPNV ist den Landkreisen oder kreisfreien Städten zugeordnet.
ÖV
Der öffentliche Verkehr (ÖV) ist sowohl im Personen-, Güter- sowie Nachrichtenverkehr für jeden Nutzer in einer Volkswirtschaft öffentlich zugänglich. Dazu zählen sowohl die öffentliche Personenbeförderung, der öffentliche Gütertransport als auch die öffentlichen Telekommunikations- und Postdienste. Der ÖV wird dabei von Verkehrsunternehmen nach festgelegten Routen, Preisen und Zeiten durchgeführt. Der ÖV ist somit im Gegensatz zum Individualverkehr (IV) örtlich und zeitlich gebunden.
Vor dem Hintergrund der verkehrspolitisch geförderten Multimodalität wird der ÖV zunehmend breiter definiert, indem auch alternative Bedienformen, Taxen bis hin zu öffentlichen Fahrrädern und öffentlichen Autos als Teil eines neuen individualisierten ÖV gesehen werden.
LSA Lichtsignalanlagen LSA (umgangssprachlich: Ampeln) dienen der Steuerung des Straßenverkehrs, indem mittels Lichtsignalen ein bestimmtes Verhalten der Verkehrsteilnehmer angeordnet wird.
Telematik Der Begriff Telematik ist aus den Worten Telekommunikation und Informatik zusammengesetzt und bezeichnet Technologien, die Datenverarbeitung und Nachrichtentechnik miteinander verknüpfen.
Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung Die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) ist eine Verordnung für den Bau und Betrieb regelspuriger Eisenbahnen in Deutschland. Sie gilt nicht für den Bau, den Betrieb oder die Benutzung der Bahnanlagen eines nichtöffentlichen Eisenbahninfrastrukturunternehmens.
ITCS
Intermodal Transport Control System (ITCS) ist ein Rechnerverbund-System im ÖPNV, welches über einen zentralen Server alle anfallenden Betriebsdaten sammelt und mit den ursprünglichen Planungsdaten vergleicht. In gewissen Grenzen kann es daraufhin selbstständig auf die jeweilige Betriebssituation reagieren.
Im Jahr 2005 ersetzte der Begriff ITCS die Bezeichnung rechnergestütztes Betriebsleitsystem (RBL), worauf sich VDV und Industrie aufgrund von überholter Funktionalität einigten.
Infotainment
Unter Infotainment (Kofferwort aus Information und Entertainment = Unterhaltung) wird ein Teil eines Medienangebotes verstanden, bei welchem der Zuschauer bzw. Empfänger sowohl informiert, als auch unterhalten wird.
BOStrab
Die Verordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen Kurztitel Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung (BOStrab) regelt in der Bundesrepublik Deutschland den Bau und Betrieb von Straßenbahnen sowie weiteren ober- und unterirdischen Bahnen, die nicht von der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung gedeckt werden.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?340219

Gedruckt am Donnerstag, 28. März 2024 21:52:22