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Die Bahnreform

Erstellt am: 25.03.2010 | Stand des Wissens: 10.09.2022
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Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch

Die erste Dampflokomotivenfahrt im Jahr 1835 legte den Grundstein für die Industrialisierung und den wirtschaftlichen Aufschwung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die öffentlichen Aufgaben allgemein erweitert, was eine zunehmende Verstaatlichung privater Eisenbahnen zur Folge hatte. Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs wurde die Verwaltung des Eisenbahnsektors dem Staat unterstellt, wodurch der Schienenverkehr de facto vollständig verstaatlicht wurde. Anfang der 1990er Jahre begann Deutschland seine bisher als Staatsmonopol betriebenen Eisenbahnen, die Deutsche Bundesbahn (DB) und die Deutsche Reichsbahn (DR), grundlegend zu reformieren.

Parallel zu den nationalen Bemühungen zur Neuordnung des Eisenbahnwesens gingen von der Europäischen Union starke Einflüsse zur Harmonisierung und Liberalisierung der Schienenverkehrsmärkte aus [Herm06a]. Die erlassenen Richtlinien und Verordnungen bildeten das Fundament für die sehr schnelle nationale Reform des Bahnwesens in den 1990er Jahren. Gründe für die Reform waren beispielsweise die verlorene Wettbewerbsfähigkeit der Eisenbahnindustrie. Während in den 1920er Jahren der Marktanteil im Schienengüterverkehr bei über 70 Prozent lag, bewältigte im Jahr 1990 der Straßengüterverkehr schließlich 2,75 Mal so viel tkm (169,8 Mrd. tkm) wie der Schienengüterverkehr (61,8 Mrd. tkm).
Unterschiedliche nationale Verkehrsregulierungen weisen ähnliche wettbewerbshemmende Wirkungen wie Zölle und mengenmäßige Beschränkungen auf. Obwohl sogar entsprechende Bestimmungen im EG-Vertrag vorgesehen waren, wurde eine gemeinsame europäische Verkehrspolitik jahrzehntelang vernachlässigt [Herm06a]. Ausgangspunkt für die europäischen Liberalisierungsbemühungen im Verkehrssektor war eine Untätigkeitsklage des Europäischen Parlaments vor dem Europäischen Gerichtshof im Jahr 1985. Die Europäische Kommission wurde hierdurch verpflichtet, zur Harmonisierung und Liberalisierung der nationalen Verkehrsmärkte beizutragen [From94]. Sechs Jahre später wurde die erste Richtlinie für den Eisenbahnsektor verabschiedet, deren vorrangigen Ziele es waren, einen einheitlichen europäischen Eisenbahnmarkt zu etablieren und die Wettbewerbsfähigkeit der Eisenbahn zu erhöhen.
Das Bundesverkehrsministerium erarbeitete von 1989 bis 1992 ein Konzept zur Reform des Eisenbahnsektors in Deutschland [MONO07]. Hieraus resultierte im Jahr 1993 das Eisenbahnneuordnungsgesetz. Mit dem ENeuOG wurden auch die Forderungen der Richtlinie 91/440/EWG nach einer diskriminierungsfreien Zugangsgewährleistung zur Eisenbahninfrastruktur umgesetzt.

Die umfassende Neuordnung des Bahnwesens kann in sechs wesentliche Kernregulierungsbereiche untergliedert werden. Zunächst war eine Entschuldung und Entlastung der ehemaligen Sondervermögen DB und DR notwendig, um die finanzielle Unabhängigkeit der reformierten Deutschen Bahn zu gewährleisten. Im Zuge der Regionalisierung wurde die Zuständigkeit für den öffentlichen Personennahverkehr vom Bund auf die Länder übertragen. Hierdurch sollte eine ausreichende Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im Nahverkehr sichergestellt werden. Die Marktöffnung war mit dem Ziel verbunden, intramodalen Wettbewerb auf der Schiene zu etablieren. Ein weiteres Kernelement der Bahnreform war die Transformation der beiden Sondervermögen in ein privatwirtschaftliches Unternehmen. In diesem Zusammenhang ist auch der für das Jahr 2008 geplante und aufgrund der Finanzkrise gescheiterte Börsengang ein grundlegender Kernaspekt. Ebenfalls mussten im Zuge der Bahnreform die Zuständigkeiten der Infrastrukturfinanzierung durch den Bund, der Eisenbahninfrastrukturunternehmen sowie der Europäischen Union neu geregelt werden [MONO07].

Andere Länder sahen sich teilweise aus ähnlichen Gründen wie Deutschland dazu veranlasst, eine Reform ihres Bahnwesens vorzunehmen und haben die europäischen Richtlinien teilweise anders als Deutschland umgesetzt. Daher lohnt sich ein Blick auf die Adaption der Bahnreform in den EU-Mitgliedsstaaten Niederlande, Österreich, Schweden und Frankreich sowie auf die Bahnreform in den Nicht-EU-Staaten Schweiz und USA und dem ehemaligen EU-Staat Großbritannien.
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Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Bahnreform (Stand des Wissens: 10.09.2022)
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Literatur
[From94] Fromm, G. Die Reorganisation der Deutschen Bahnen - Voraussetzung für eine Neubestimmung des Standorts der Eisenbahnen in der Verkehrspolitik , veröffentlicht in Deutsches Verwaltungsblatt (DVBI), Heymans Verlag, 1994
[Herm06a] Hermes, G. Beck'scher AEG-Kommentar Teil B. Einführung , C.H.Beck, München, 2006
[MONO07] Monopolkommission Wettbewerbs- und Regulierungsversuche im Eisenbahnverkehr - Sondergutachten 48 der Monopolkommission, Nomos-Verlag/Baden-Baden, 2007/04
Glossar
Eisenbahninfrastrukturunternehmen Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) ist ein Rechtsbegriff des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG). Gemäß § 2 Abs. 1 AEG sind Eisenbahninfrastrukturunternehmen öffentliche Einrichtungen oder privatrechtlich organisierte Unternehmen die eine Eisenbahninfrastruktur betreiben.
Schienengüterverkehr
Unter Schienengüterverkehr (SGV) wird der Transport von Gütern mit der Eisenbahn verstanden. Diese werden in Güterzügen unter Verwendung (spezieller) Güterwagen befördert. Diese Verkehre können entweder auf gesonderten Güterverkehrsstrecken oder im Mischverkehr, auf gemeinsam durch den Güter- und Personenverkehr genutzten Strecken, realisiert werden. Leistungen des Schienengüterverkehrs werden häufig als Teil einer Logistikkette in logistische Gesamtkonzepte eingebunden.
tkm tkm = Tonnenkilometer Die Einheit Tonnenkilometer [tkm] beschreibt die im Rahmen einer Güterbeförderung erbrachte Verkehrsarbeit. Diese definiert sich als Produkt der Gütermenge (Summe der beförderten Güter in Tonnen) und der von dieser dabei zurückgelegten Wegstrecke in km. Verkehrsarbeit [tkm] = Gütermenge [t] * Wegstrecke [km]
Öffentlicher Personennahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr ist juristisch im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) definiert. Laut Paragraf 8, Absatz 1 und 2 umfasst der ÖPNV "die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen". Taxen oder Mietwagen können dieses Angebot ersetzten, ergänzen oder verdichten.
Der Begriff ÖPNV bezieht sich in der Regel auf Strecken mit einer gesamten Reiseweite von weniger als 50 Kilometern oder einer gesamten Reisezeit von weniger als einer Stunde. Das in einer Stadt oder Region erforderliche Nahverkehrsangebot und dessen Eignung hinsichtlich Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird in einem Nahverkehrsplan definiert und festgehalten.
Regionalisierung Regionalisierung bedeutet die Strukturierung und/oder Untergliederung eines geografischen Untersuchungsraums nach Merkmalen, die das Gebiet für einen gegebenen Kontext charakterisieren. Mit der Regionalisierung hydrologischer Modellparameter soll ein Zusammenhang zwischen Parametervariabilität und spezifischen physikalischen Charakteristika des Modelleinzugsgebiets hergestellt werden.
BMDV
Bundesministerium für Digitales und Verkehr (bis 10/2005 BMVBW, bis 12/2013 BMVBS und bis 11/2021 BMVI)
Eisenbahninfrastrukturunternehmen
Zur Erhaltung des Schienennetzes zählen Maßnahmen zur Instandhaltung und für die Durchführung von Ersatzinvestitionen. Grundsätzlich tragen die Eisenbahninfrastrukturunternehmen die dabei anfallenden Kosten, werden aber nach der LuFV vom Bund mit einem bestimmten Betrag jährlich unterstützt.
Verkehrsleistung
Die Verkehrsleistung gibt Auskunft über die Inanspruchnahme von Ressourcen. Als Verkehrsleistung wird die auf eine Zeiteinheit t (zum Beispiel ein Jahr) bezogene Verkehrsarbeit definiert und als Quotient dargestellt. Die Verkehrsarbeit wird dabei als Produkt von Verkehrseinheiten (zum Beispiel Güter oder Personen) und der durch diese zurückgelegten Strecke gebildet. In der Verkehrswissenschaft sind die Einheiten Personenkilometer pro Jahr [Pkm/a] oder Tonnenkilometer pro Jahr [tkm/a] gebräuchlich.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?300976

Gedruckt am Donnerstag, 28. März 2024 14:36:20