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Die Bahnreform in den Niederlanden

Erstellt am: 23.03.2010 | Stand des Wissens: 10.09.2022
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Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch

Im Jahr 1937 wurde die NV Nederlandse Spoorwegen (NS) durch die Fusion der beiden Eisenbahngesellschaften "Hollandsche IJzeren Spoorweg-Maatschappij" (HSM) und "Maatschappij tot Exploitatie van Staatsspoorwegen" (SS) gegründet [NEDS10]. Sie war ein privatrechtliches Unternehmen mit dem Staat als alleinigem Anteilseigner, wurde aber nie vollständig vom Staat betrieben. Bis zum Beginn der Bahnreform war NS Eigner und Verwalter der Infrastruktur und besaß das Monopol auf Schienenverkehrsleistungen. Der Marktanteil der Schiene im Personenverkehr betrug im Jahr 1994 8,6 Prozent, der Anteil des Güterverkehrs am Modal-Split lag im selben Jahr nur bei 2,7 Prozent [EURO10].

Die niederländische Regierung stimmte im Jahr 1993 der Verselbstständigung der Nederlandse Spoorwegen und damit einer weitgehenden Selbstständigkeit zu. Mit "Verselbstständigung" war allerdings nicht die Änderung der Rechtsform gemeint, sondern vielmehr die Einstellung der Betriebsbeihilfen und die Verringerung des staatlichen Einflusses. Die tatsächliche Reformierung des Bahnwesens in den Niederlanden begann im Jahr 1995 mit der Umstrukturierung der NS. Initiiert durch die EU Richtlinie [91/440/EWG] fand eine organisatorische Trennung von Netz und Betrieb statt [IM02]. Nederlandse Spoorwegen wurde dabei in mehrere Gesellschaften aufgeteilt. Die drei Infrastrukturgesellschaften Railned BV (Planung von Infrastruktur), NS Railverkeersleiding BV (Verkehrsleitung) und NS Railinfrabeheer BV (Instandhaltung) übernahmen das Netz. Für den Betrieb blieb die Personenverkehrssparte der NS, die NS Reizigers BV, zuständig [CH02]. Die Güterverkehrssparte NS Cargo wurde auch verselbstständigt und vier Jahre später an die Railion Gruppe verkauft. Das langfristige Ziel der Reform war die Privatisierung der Bahn, während die Infrastrukturgesellschaften Eigentum des Staates bleiben sollten.

Nach diesen Liberalisierungsschritten kam es allerdings zu einer Verschlechterung der Angebotsqualität. Außerdem waren die Aufgabenverteilung zwischen den drei Infrastrukturgesellschaften und die Schnittstellen zwischen dem Zugbetrieb und der Betriebsleitung nicht ausreichend definiert. Da der Anteil pünktlicher Züge drastisch sank, wurde im August 2001 ein "recovery plan" zwischen NS und dem Verkehrsministerium vereinbart, der unter anderem eine Steigerung der Pünktlichkeit vorsah. Außerdem wurden die drei Infrastrukturgesellschaften 2003 zu der Behörde ProRail zusammengefasst. Diese ist direkt dem Verkehrsministerium unterstellt und kann Aufträge an Externe weitergeben [PRO02]. Der für das Jahr 2002 geplante Börsengang der niederländischen Bahn wurde aufgrund der Probleme der NS verschoben.

Im Jahr 2005 wurde das zweite Eisenbahnpaket in nationales Recht umgesetzt und der Zugang für EVU zum Schienengüterverkehrsmarkt geöffnet. Der Markt des Schienenpersonenverkehrs ist - zumindest für den eigenwirtschaftlich betriebenen Verkehr - bis 2015 geschlossen [IBM11, S.174]. NS Reizigers erhielt bereits im Jahr 2000 von der niederländischen Regierung eine exklusive Konzession für das Hauptschienennetz. Die Regionallinien werden ausgeschrieben und können somit auch von anderen EVU befahren werden [LITRA02].

Die Niederlande haben das erste und zweite Eisenbahnpaket umgesetzt und den Schienengüterverkehrsmarkt für Dritte EVU geöffnet. Der Marktführer Railion hat Marktanteile an die anderen tätigen EVU verloren. In den Niederlanden herrschen vergleichsweise niedrige Trassenpreise und es gibt kaum bestehende Marktzugangsbarrieren. Die Zahl der EVU ist im Schienengüterverkehr von 9 im Jahr 2007 auf 26 im Jahr 2011 gestiegen. Der Marktanteil dritter EVU lag im Jahr 2009 bereits bei 45 Prozent [IBM11, S.178].

Im Schienenpersonenverkehr haben neue EVU einen Marktanteil von circa 12 Prozent. Während der Personennahverkehr formal ausgeschrieben wird und Wettbewerber die Möglichkeit haben in den Markt einzutreten, ist der Fernverkehr weiterhin durch die Konzession der NS bis 2015 geschlossen. Die Konzession betrifft - gemessen in Personen-Kilometern - 90 Prozent des gesamten Netzes [IBM11, S.179]. Der Zugang zum Schienenpersonenverkehrsmarkt ist ausländischen EVU nur nach der Richtlinie [91/440/EWG] gestattet [IBM07]. NS Reizigers erbringt den nationalen Fernverkehr sowie den Großteil des Regionalverkehrs in den Niederlanden. Auf den Regionallinien führen neben NS die Anbieter Arriva, Syntus, Connexxion und Transdev Leistungen aus [NEDS10a]. Der internationale Schienenpersonenfernverkehr wird hauptsächlich von NS Hispeed (ehemals NS Internationaal) durchgeführt.

Der Marktanteil der Schiene am Modal Split im Güterverkehr ist von 2,9 Prozent im Jahr 1996 auf 6,1 Prozent im Jahr 2020 gestiegen. Im Personenverkehr hat sich der Anteil von 8,5 Prozent im Jahr 2001 auf 11,2 Prozent im Jahr 2019 erhöht [EuSt22] [EK21c S. 49].
Ansprechpartner
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Zugehörige Wissenslandkarte(n)
Bahnreform (Stand des Wissens: 10.09.2022)
https://www.forschungsinformationssystem.de/?301385
Literatur
[CH02] Cheung, F. Passenger Railway Transport in the Netherlands, Amsterdam, 2002
[EK21c] Europäische Kommission (Hrsg.) Statistical Pocketbook 2021
EU transport in figures, 2021
[EURO10] EUROSTAT Eurostat: Datenbank Verkehr, 2010
[Eurostat17b] Eurostat Personenbeförderung nach Verkehrszweig % der gesamten Personentransport km - Züge, 2017
[EuSt22] Eurostat (Hrsg.) Modal split of freight transport, 2022
[GR03] Grantham, A. Achieving Public Value Through Co-operation, Ausgabe/Auflage Bd. 159 (4), 2003
[IBM07] IBM Business Consulting Services, Kirchner, Christian, Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. Liberalisierungsindex Bahn 2007 - Marktöffnung: Eisenbahnmärkte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der Schweiz und Norwegens im Vergleich, Ausgabe/Auflage 3, 2007/10/17
[IBM11] IBM Business Consulting Services, Kirchner, Christian, Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. Liberalisierungsindex Bahn 2011 - Marktöffnung: Eisenbahnmärkte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der Schweiz und Norwegens im Vergleich, 2011/04/20
[IM02] o.A. Deliverable D1 - State of the Art in Railway. Infrastructure Capacity and Access Management, 2002
[LITRA02] Pfund, Carlo, Dr. Bahnreform 2. Die Trennung des Verkehrs von der Infrastruktur der Bahn oder die Trennungsphilosophie der Europäischen Union EU, Bern, 2002
[NEDS10] Nederlandse Spoorwegen Geschiedenis van NS, Utrecht, 2010
[NEDS10a] Nederlandse Spoorwegen Andere reizigersvervoerders, Utrecht, 2010
[PRO02] o.A. Contracting Policy of ProRail, Utrecht, 2002
Rechtsvorschriften
[91/440/EWG] Richtlinie [...] zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (91/440/EWG)
Glossar
Schienengüterverkehr
Unter Schienengüterverkehr (SGV) wird der Transport von Gütern mit der Eisenbahn verstanden. Diese werden in Güterzügen unter Verwendung (spezieller) Güterwagen befördert. Diese Verkehre können entweder auf gesonderten Güterverkehrsstrecken oder im Mischverkehr, auf gemeinsam durch den Güter- und Personenverkehr genutzten Strecken, realisiert werden. Leistungen des Schienengüterverkehrs werden häufig als Teil einer Logistikkette in logistische Gesamtkonzepte eingebunden.
Eisenbahnpaket Bei den Eisenbahnpaketen (eng. railway packages) handelt es sich um eine Zusammenfassung von Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union, die sich u. a. mit dem Zugang zum Schienengüterverkehrsnetz, der Liberalisierung des Güterverkehrs sowie mit Fahrgastrechten befassen. Bisher wurden vier Eisenbahnpakete erlassen, von denen das erste im Jahr 2001 verabschiedet wurde und das vierte im Januar 2013.
Modal Split
Modal Split wird in der Verkehrsstatistik die prozentuale Verteilung des Personen- und Güterverkehrs auf verschiedene Verkehrsmittel (Modi) genannt. Der Modal Split ist Folge des Mobilitätsverhaltens der Menschen und der wirtschaftlichen, insbesondere der verkehrlichen Entscheidungen von Unternehmen.
EVU Eisenbahnverkehrsunternehmen
Verkehrsleistung
Die Verkehrsleistung gibt Auskunft über die Inanspruchnahme von Ressourcen. Als Verkehrsleistung wird die auf eine Zeiteinheit t (zum Beispiel ein Jahr) bezogene Verkehrsarbeit definiert und als Quotient dargestellt. Die Verkehrsarbeit wird dabei als Produkt von Verkehrseinheiten (zum Beispiel Güter oder Personen) und der durch diese zurückgelegten Strecke gebildet. In der Verkehrswissenschaft sind die Einheiten Personenkilometer pro Jahr [Pkm/a] oder Tonnenkilometer pro Jahr [tkm/a] gebräuchlich.
Schienenpersonenfernverkehr
Der Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) ist die Beförderung von Reisenden mit Eisenbahnzügen über längere Strecken mit mehr als einer Stunde Fahrzeit oder 50 km Entfernung. Im Gegenzug zum Schienenpersonennahverkehr (SPNV) bzw. dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) wird der SPFV eigenwirtschaftlich betrieben und muss sich betriebsökonomisch selbst tragen.
Eisenbahnverkehrsunternehmen Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) sind öffentliche Einrichtungen oder privatrechtlich organisierte Unternehmen, die Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen. "Eisenbahnverkehrsunternehmen" stellt einen europarechtlichen Begriff dar, welcher durch nationales Recht in Form von § 2 (1) des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) konkretisiert wird.
Instandhaltung
Im Kontext des Erhaltungsmanagements bezeichnen die Begriffe "Instandhaltung" und "bauliche Unterhaltung" bauliche Maßnahmen kleineren Umfangs zur Substanzerhaltung von Verkehrsflächen, die mit geringem Aufwand in der Regel sofort nach Auftreten eines örtlich begrenzten Schadens ausgeführt werden.

Auszug aus dem Forschungs-Informations-System (FIS) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur

https://www.forschungsinformationssystem.de/?298968

Gedruckt am Freitag, 29. März 2024 10:43:14