Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr
Erstellt am: 13.12.2007 | Stand des Wissens: 19.11.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Der europäische Hochgeschwindigkeitsverkehr (HGV) auf der Schiene konnte seit der Eröffnung der ersten HGV-Linie in Frankreich zu Beginn der 1980er Jahre seinen Marktanteil im intramodalen Vergleich stetig ausbauen. Inzwischen wird über ein Viertel der Verkehrsleistung im europäischen Schienenverkehr (30,5 Prozent im Jahr 2020) durch Hochgeschwindigkeitsverkehrsangebote erbracht, wobei die Bedeutung des HGV in den einzelnen Mitgliedsstaaten stark variiert [EUKO22a, S. 54]. So wird ein dominierender Anteil der gesamteuropäischen Verkehrsleistung vom französischen Hochgeschwindigkeitssystem Train à grande vitesse (TGV) (60,5 Prozent im Jahr 2020) produziert. Er liegt fast doppelt so hoch wie der des drittplazierten deutschen HGV-Systems (31,4 Prozent im Jahr 2020) [EUKO22a, S. 54]. Auch bezüglich der Netzgröße nahm Frankreich über lange Zeit eine Sonderrolle innerhalb Europas ein, wurde jedoch 2010 von Spanien übertroffen: Mit 3.487 Kilometern konnte Spanien, gefolgt von Frankreich (2.734 Kilometer) und der Bundesrepublik Deutschland (1.571 Kilometer) im Jahr 2020 die meisten Streckenkilometer aller Länder in Europa vorweisen [EUKO22a, S. 81]. Nach Angaben der Union Internationale des Chemins de fer (UIC, deutsch Internationaler Eisenbahnverband) waren im Jahr 2015 in Europa insgesamt 1.488 Zugverbände in Betrieb, die 250 Kilometer pro Stunde oder schneller fahren können [UIC15, S. 15]. Abbildung 1 zeigt den prozentualen Anteil des HGV an der Gesamtverkehrsleistung im Schienenpersonenverkehr der Länder Mittel- und Westeuropas. Es wird deutlich, dass der HGV auf der Schiene in den vergangenen Jahren in den meisten Ländern eine große Bedeutung gewonnen hat.
Abbildung 1: HGV-Anteil an der Gesamtverkehrsleistung, Schienenpersonenverkehr 2000/2020 (Angaben in Prozent der Gesamt-Personenkilometer, eigene Darstellung nach [EUKO22a, S. 54]
Der HGV hat sich als probates Mittel erwiesen, die Wettbewerbsfähigkeit des nationalen Schienenpersonenverkehrs zu steigern. Angesichts der wirtschaftlichen Verflechtungen in Europa spielen attraktive Reisezeiten, kombiniert mit einem hohen Reisekomfort zukünftig eine immer wichtigere Rolle. Nachdem das Hochgeschwindigkeitskonzept zunächst in Japan erfolgreich verwirklicht wurde, kam es auch in Frankreich, Deutschland, Schweden, Italien, Spanien und Großbritannien zur Anwendung. Die Strecken wurden für Reisegeschwindigkeiten zwischen 200 und über 300 Kilometer pro Stunde (aus)gebaut. Die Erfolge der nationalen HGV-Projekte waren jedoch verbunden mit hohen Investitionen in den Fahrweg. Dies ließ unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten in manchen Ländern - wie Deutschland - nur eine Mischnutzung der Neubaustrecken zu. Andere Länder, wie etwa Frankreich, favorisierten von Beginn an den artreinen Betrieb von Hochgeschwindigkeitsstrecken ausschließlich für den Personenverkehr [Milz98, S. 25].
HGV-Angebote haben sich in den vergangenen Jahren in Europa von einem zusätzlichen Premiumsegment zunehmend zum Rückgrat des Schienenpersonenfernverkehrs entwickelt, welches den konventionellen Zugverkehr verstärkt substituiert. Grundlage dieser Entwicklung waren hohe Investitionen in modernes Fahrzeugmaterial und vor allem in die HGV-Infrastruktur. Inzwischen ist bereits ein Zusammenwachsen der zunächst national vorangetriebenen Netze zu beobachten. Hierdurch werden qualitativ hochwertige grenzüberschreitende Verkehrsangebote möglich. Eine zunehmende Interoperabilität der verschiedenen nationalen Eisenbahnsysteme, deren technische und organische Harmonisierung von der Europäischen Union unter anderem durch umfangreiche Forschungsaktivitäten beschleunigt wurde, bildet eine wesentliche Grundlage für die steigende Attraktivität internationaler HGV-Relationen. Erste Erfolge zeigen sich anhand deutlich verkürzter Fahrzeiten im grenzüberschreitenden Verkehr (Abbildung 2).
Abbildung 2: Fahrzeiten im nordwesteuropäischen Hochgeschwindigkeitsverkehr [EUKOM10d, S. 6]
Auch wenn sich der Harmonisierungsprozess wahrscheinlich noch über Jahrzehnte hinziehen wird (beispielsweise die Migration des einheitlichen europäischen Leit- und Sicherungssystems, ETCS), sind die Bahnen durch den HGV schon heute nicht nur auf nationalen Strecken in einen intensiven Wettbewerb mit dem Luftverkehr eingetreten. Mit diversen Betriebskonzepten wie Flügelzügen, Sprinter-Zügen oder Low-Cost-Ansätzen versuchen die Bahnen verlorene Nachfragesegmente zurückzugewinnen. Zeichen des Erfolgs sind hohe Modal-Split-Anteile auf Routen wie London - Paris, Köln - Frankfurt oder Madrid - Sevilla.
Als High-Tech-Produkt hat die Entwicklung von Hochgeschwindigkeitszügen für zahlreiche technische Innovationen gesorgt (zum Beispiel Zugbeeinflussungssysteme, Wirbelstrombremse, Internetzugang im Zug). Seit dem Aufstieg der Hochgeschwindigkeitsverkehre wurde auch die Magnetschwebebahn-Technologie als potenzielle Alternative zum herkömmlichen Rad-Schiene-System intensiver diskutiert. Diese konnte sich in Europa mit dem Transrapid jedoch nicht durchsetzen [dzsf22f]. Anwendungsfälle im Fernverkehr sind eher in Regionen der Welt zu erwarten, in denen die Netzqualität der Eisenbahn nicht den europäischen Standard erreicht und somit ein Aufbau von komplett neuen Bahnsystemen sinnvoll erscheint (zum Beispiel BRIC-Staaten). Ein Anwendungsbeispiel ist das Magnetbahn-Nahverkehrssystem Ecobee, welches 2016 am Flughafen in Incheon, Südkorea, in Betrieb genommen wurde. Es fasst eine Länge von 6,5 Kilometern und bedient mit bis zu 110 km/h sechs Stationen [VDEI21, S. 47 f.].
Eine weitere neue Technologie ist der 2013 von Elon Musk vorgestellte Hyperloop, bei welchem es sich im eine spurgebundene Transportkapsel handelt, die sich durch eine luftleere Röhre bewegt und nahezu Schallgeschwindigkeit erreichen soll [dzsf22f]. Der grundlegende Gedanke einer Röhrenbahn wurde jedoch bereits in den 1930er Jahren gefasst [VDEI21, S. 49].