Aktionsräumliches Verhalten von Kindern und Jugendlichen
Erstellt am: 24.05.2006 | Stand des Wissens: 15.01.2021
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Das aktionsräumliche Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu verstehen, ist eine wichtige Voraussetzung für Politiker und Planer, um effiziente und nachhaltige Lösungen für die Mobilitätsbedürfnisse junger Menschen zu entwickeln. Da dieses Verhalten im engen Zusammenhang mit der körperlichen und geistigen Entwicklung steht, darf es nicht vernachlässigt werden.
Der Raum, in dem sich Kinder und Jugendliche selbstständig ohne Begleitung oder Aufsicht von Erwachsenen bewegen, wird als Aktionsraum, -radius, home range oder Bewegungsraum bezeichnet. Folgende Einflussfaktoren bestimmen den Aktionsraum:
- Alter: Mit zunehmendem Alter erweitern Kinder ihren Aktionsraum. Eigene Mobilitätsanstrengung sowie Planung- und Koordinierungskompetenzen werden relevanter. Der Wunsch nach unabhängiger Mobilität wächst [BMFSFJ17a], S. 251 f.].
- Geschlecht: In früheren Studien wurden häufig Unterschiede im räumlichen Verhalten von Mädchen und Jungen festgestellt. Zum Beispiel legen Mädchen weniger Wege selbstständig zurück [KrSc99, S. 103 f.] und ihr Aktionsraum ist in der Regel kleiner als der von Jungen [KrSc99, S. 15]. Heute sind geschlechtsspezifische Unterschiede in der Größe des Aktionsraumes kaum mehr zu beobachten [KrSc99, S. 104 ff.].
- elterliches Verhalten: Besonders die elterlichen Restriktionen bestimmen die Größe des Aktionsraumes. Diese sind unter anderem durch Angst vor Verkehrsunfällen und sozialen Gefährdungen geprägt [KrSc99, S. 23; Blin96, S. 53 ff., ADAC18c]. Eltern begleiten verstärkt ihre Kinder auf Schulwegen, aber auch in der Freizeit. Oftmals werden die Kinder mit dem Auto gefahren, was zu einer Verinselung und Verhäuslichung der Aktivitätenräume führt: Diese sind zwar zweiter voneinander entfernt, jedoch werden die Räume zwischen diesen Aktivitäten nur noch durchfahren, womit diese unerforscht bleiben und die eigenständige Mobilitätsentwicklung der Kinder gehemmt wird [FGSV12f]; [ifes08] S. 12 ff.; Blin03].
- Wohnumfeld: Den größten Einfluss auf die Nutzung des Aktionsraumes hat die Qualität des Wohnumfeldes, welche Auswirkungen auf die Art und die Größe des Aktionsraumes hat. Der Zugang zu den Spielorten wird vor allem durch den motorisierten Individualverkehr (MIV), aber auch durch weite Entfernungen zu Spielgelegenheiten, Verbote, Lärmbelastungen und Verschmutzungen beschränkt [Blin96, S. 49 ff.]. Die verkehrliche Situation der Wohnumgebung hat zudem einen Einfluss auf die Aufenthaltsdauer und somit auch auf die Intensität der Erkundung des Aktionsraumes. Diese haben wiederum Auswirkungen auf die motorische und soziale Entwicklung sowie den Grad der Selbstständigkeit von Kindern [HüDe95, S. 28]. Auch Hüttenmoser und Degen-Zimmermann [Hütt03, S. VIII ff.] bestätigen anhand ihrer empirischen Studien "Lebensräume für Kinder" diese Ergebnisse für fünfjährige Kinder. Sie zeigen, dass Kinder, die aufgrund von ungünstigen Wohnumfeldbedingungen nicht unbegleitet spielen dürfen, im Vergleich zu anderen Kindern Rückstände in ihrer motorischen und sozialen Entwicklung sowie im selbstständigen Handeln aufweisen. Auch der sozioökonomische Status der Wohnlage steht im Zusammenhang mit Aktionsräumen: der Aktionsradius von Jugendlichen, die von Armut betroffen sind, ist tendenziell enger [BMFSFJ17a, S. 252]. In ländlicheren Gegenden und Kleinstädten ist die eigenständige Mobilität von Kindern größer, da zum einen viele Aktivitätenorte für Kinder selbstständig erreichbar sind und zum anderen weniger Barrieren (wie zum Beispiel mehrspurige Straßen) vorherrschen [BMFSFJ17a], S. 252].
- Verkehrsmittel: In jungen Jahren (bis neun Jahre) werden häufig Wege vor allem zu Fuß (32 Prozent) oder als Mitfahrer im elterlichen Auto (50 Prozent) zurückgelegt. Zwischen 10 und 19 Jahren sinkt die Prozentzahl bei diesen Fortbewegungsmittel. Dafür steigt die Altersgruppe zwischen 10 bis 19 häufiger auf das Fahrrad (19 Prozent). Allgemein ist die Nutzung des Fahrrads bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren gestiegen [BMVI19am, S. 51]. Mit der Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) werden Kinder vertraut gemacht, wenn sie die öffentlichen Verkehrsmittel auf dem Schulweg nutzen (größte Nutzung zwischen 10 und 19 Jahren mit 23 Prozent) [Nobi18, S, 50]. Der Anteil an selbstständigen Wegen für beispielsweise 7-10 Jährige sank seit 1985 von 35 Prozent auf 20 Prozent [infas10]; [FGSV12f]. In den letzten Jahren kommt es vermehrt zu Hol- und Bringverkehren durch sogenannte "Eltern-Taxis". Als Grund wird in erster Linie von den Eltern Bedenken betreffend der Sozialen- und der Verkehrssicherheit angegeben. Dass die Mobilität von Kindern durch diese Bringdienste (vor allem langfristig gesehen) sicherer wird, ist ein Trugschluss. Vor allem ihre Entwicklung und Selbstständigkeit im Verkehr bleibt hierbei auf der Strecke [ADAC18c]. Der Aktionsradius von Kindern und Jugendlichen wächst somit parallel mit dem Alter und den damit verbundenen Verkehrsmodi.
- Verkehrszweck: Durch die verschiedenen Aktivitäten(-orte), wie zum Beispiel Freizeit und Ausbildung haben Kinder und Jugendliche die Möglichkeit verschiedene Umgebungen kennen zu lernen. Allerdings ist die Intensität der Erfahrungen auf nicht zielgebundenen Wegen (Streifzügen) wesentlich höher, da der Weg selbst und dessen erleben im Vordergrund steht.
Um die Qualität von Aktionsräumen beurteilen zu können, wurden in der Aktionsraumforschung verschiedene räumliche und soziale Kriterien entwickelt. Nach Blinkert [Blin96] sollte ein Aktionsraum folgendes leisten:
- Zugänglichkeit und Gebrauchsfähigkeit bieten, das heißt problemloser Zugang und Umsetzungsmöglichkeiten der Nutzungsbedürfnisse,
- Gefahrlosigkeit sicherstellen beziehungsweise Gesundheit und Sicherheit fördern,
- Gestaltbarkeit und Veränderbarkeit zulassen, also Bereiche bieten, die nicht explizit einer bestimmten Funktion zugeordnet sind und von Kindern selbst gestaltet werden können; allerdings sollten die Bereiche nicht vollkommen nutzungsoffen sein, da sie so keine Anregungen bieten,
- Interaktionschancen und Erlebniswelten schaffen und somit keine monofunktionalen Umwelten, sondern solche, die erkundet, erlebt und angeeignet werden können und Optionen bieten, anderen Menschen unterschiedlichen Alters zu begegnen [ILS04a, S. 21 f.; nach Blin96, S. 46].
In vielen Quellen finden sich die Anforderungen "Zugänglichkeit", "Sicherheit" und "Interaktionschancen" als wichtige Eckpfeiler wieder.
Die Erfüllung dieser Kriterien wurde in der Studie "Kids im Quartier" anhand von drei verschiedenen Siedlungsformen (Einfamilienhaussiedlungen, innenstadtnahe Mischgebiete und Zeilenbausiedlungen) untersucht:
- Zugänglichkeit und Gebrauchsfähigkeit: Die Befragten sind mit der Zugänglichkeit und Gebrauchsfähigkeit für Kinder in Einfamilienhausgebieten zufrieden. Für Zeilenbausiedlungen und Mischgebieten wurden diese eher durchschnittlich bewertet. Für Jugendliche sind Mischgebiete vorteilhafter, Zeilenbau- und Einfamilienhausgebiete werden eher durchschnittlich beurteilt.
- Gefahrlosigkeit, Gesundheit und Sicherheit: Für Einfamilienhausgebiete werden diese Kriterien von den Befragten für Kinder als auch für Jugendliche als zufriedenstellend bewertet. Für Zeilenbausiedlungen liegt die Bewertung im durchschnittlichen Bereich und für Mischgebiete sind die Beurteilungen ambivalent: Für Kinder werden diese Aspekte als nicht erfüllt angesehen. Für Jugendliche scheint diese Siedlungsform geeignet zu sein.
- Gestaltbarkeit und Veränderbarkeit: Diesbezüglich sind die Befragten nur mit den Möglichkeiten für Kinder in Einfamilienhausgebieten zufrieden. Für Kinder und Jugendliche in anderen Siedlungsformen sind die Beurteilungen durchschnittlich bis nicht zufriedenstellend.
- Interaktionschancen und Erlebniswelten: Für Kinder und Jugendliche sind, laut den Befragten, Einfamilienhausgebiete und Mischgebiete zufriedenstellend. Andere Siedlungsformen sind diesbezüglich weniger geeignet [ILS04a, S. 71 ff.].
Zeilenhausgebiete erweisen sich als kinder- und jugendfreundlich, während Einfamilienhausgebiete eher als kinderfreundlich und Mischgebiete eher als jugendfreundlich anzusehen sind [ILS04a, S. 78 ff.].
Es ist wichtig, die bisherigen Erkenntnisse in zukünftige Planungen einfließen zu lassen, da die Aktionsräume von Kindern und Jugendlichen noch viel Potential besitzen. Neben den Kindern und Jugendlichen, deren Entwicklung und Gesundheit von einer verhaltensgerechten Infrastruktur profitiert, haben die genannten Kriterien (von zum Beispiel der Vernetzung und Zugänglichkeit von innerstädtischen Zwischenräumen) auch für die restlichen Nutzer die Möglichkeit, die Lebensqualität in den Städten nachhaltig zu verbessern.