Forschungsaktivitäten im Bereich der Schienenverkehrssicherheit
Erstellt am: 01.10.2004 | Stand des Wissens: 01.03.2024
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
IKEM - Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V.
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Zu den verschiedenen Aspekten der Schienenverkehrssicherheit sind in den vergangenen Jahren sowohl auf nationaler als auch europäischer Ebene zahlreiche Forschungsprojekte initiiert worden. Das Eisenbahn-Bundesamt hat im Jahr 2019, mit dem Bundesforschungsprogramm Schiene, ein eigenes Forschungsprogramm für den Schienenverkehr ins Leben Gerufen. Neben den Aspekten Wirtschaftlichkeit, Umwelt und nachhaltige Mobilität, steht der Aspekt Sicherheit dabei im Fokus. [EBA22a]
Ein beispielhaftes Forschungsvorhaben stellt das Projekt RCAS (Railway Collision Avoidance System) dar. Unter Federführung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) wurde ein System zur Vermeidung von Zugkollisionen basierend auf der infrastrukturlosen Zug-zu-Zug-Kommunikation entwickelt und erprobt. [DLR10; 451815, S. 20 f.] Das DLR beteiligt sich ebenfalls am vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) geförderten Projekt PiLoNav (Precise and Integer Localisation and Navigation in Rail and Inlandwater Traffic). Das Projekt untersucht die Möglichkeit, mit Hilfe einer verbesserten Navigationseinheit an Bord des Schienenfahrzeugs (sog. Train Location Unit) und bestehender Ortungssysteme hochgenaue und zugleich zuverlässige Ortungsinformationen zu liefern. Ziel ist es, diese Informationen unter anderem den sicherungstechnischen Komponenten im Fahrzeug zur Verfügung zu stellen und langfristig auf die Ortung durch ortsfeste Einrichtungen zu verzichten. [LüRa12, S. 72 ff.]
Als ein weiteres Beispiel sei das aktuelle Projekt D-RAIL (Development of the Future Rail System to Reduce the Occurrences and Impact of Derailment) angeführt, an dem auf deutscher Seite der Deutsche Bahn AG Konzern beteiligt ist. Das Projekt nimmt einen anderen Sicherheitsaspekt in den Fokus, nämlich die Entstehung von Entgleisungen und mögliche technische Lösungen, um sie frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Das Thema wird im Kontext des Schienengüterverkehrs untersucht. [PaIn11; ScZa13]
Der European Rail Research Advisory Council (ERRAC), ein Zusammenschluss von Akteuren aus Politik und Wirtschaft, hat für die zukünftige Schienenverkehrssicherheitsforschung fünf Schwerpunktthemenfelder definiert. Nachholbedarf sieht das Gremium besonders in diesen Bereichen:
- Degraded operation: Ein Ausfall von Teilsystemen ist im Schienenverkehr häufig mit der Notwendigkeit zur Durchführung eines Behelfsbetriebs verbunden. Unabhängig von der Tatsache, dass die hierfür ursächlichen Fehlfunktionen grundsätzlich Gefahren für Mensch, Fahrzeug, Schieneninfrastruktur und Umwelt bergen können, ergeben sich durch den Behelfsbetrieb verkehrliche Einbußen in der Leistungsfähigkeit; dadurch kommt es zu Zugverspätungen oder sogar Zugausfällen . Neue Forschungsprojekte sollten darauf abzielen, mit Hilfe erhöhter Systemzuverlässigkeit, -verfügbarkeit, -wartungsfreundlichkeit und -sicherheit eine durch grenzüberschreitende Verkehrsangebote hervorgerufene Übertragung von Sicherheitsrisiken und eingeschränkter Leistungsfähigkeit zu verhindern sowie die negativen Auswirkungen eines Behelfsbetriebes zu reduzieren.
- Interface management: Nach Maßgabe der jüngsten EU-Gesetzgebung haben viele Mitgliedsstaaten neue Kompetenzstrukturen im Bereich des Schienenverkehrs eingeführt (vgl. hierzu bspw. [2004/49/EG]). Diese Entwicklung zieht auch ein Mehr an Schnittstellen nach sich und kann aufgrund der damit verbundenen Abstimmungsprozesse zwischen den verantwortlichen Akteuren neue Sicherheitsrisiken hervorrufen. Vor diesem Hintergrund müssen deshalb geeignete Verfahren für ein reibungsloses und effektives Schnittstellenmanagement entwickelt werden.
- Infrastructure safety: Neben Ansätzen, die die Möglichkeit zu einer Fernzustandsüberwachung von Schienenwegen erforschen sollen, um risikobehaftete Arbeiten in Gleisnähe eingrenzen zu können, fordert der ERRAC zudem neue Strategien für eine effektive Gefahrenabwehr an Bahnübergängen. So sollen einerseits kostengünstige Lösungen zur Realisierung höhenfreier Kreuzungen erarbeitet oder alternativ der Einsatz geeigneter Hinderniserkennungssysteme erprobt werden.
- Human factors: Dieser Forschungsaspekt zielt ab auf die bestehenden Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen zwischen dem an eisenbahnbetrieblichen Prozessen beteiligten Personal. Die adäquate Kommunikation zwischen Triebfahrzeugführern, Stellwerksmitarbeitern sowie weiteren verantwortlichen Stellen bildet eine entscheidende Grundlage zur Gewährleistung sicherer Schienenverkehrsangebote, weshalb sie ebenfalls im Rahmen künftiger Forschungsprojekte zur Eisenbahnbetriebssicherheit gebührend Berücksichtigung finden soll.
- Homologation and acceptance: Unterschiedliche Sicherheitsstandards erweisen sich im grenzüberschreitenden Schienenverkehr als wesentliche Kostentreiber. So bezifferte die Union of European Railway Industries (UNIFE) 2006 den aus mangelnder Interoperabilität entstehenden Kostenaufwand auf ca. 3 Mrd. EUR jährlich. In Übereinstimmung mit den EU-seitig eingeleiteten Harmonisierungsbemühungen forderte deshalb der ERRAC 2006 kurz- und mittelfristige "Cross Acceptance"-Vereinbarungen [ERRAC07, S. 20 ff.]. Diese Forderung hat sich als Vorstufe eines gemeinsamen Zulassungsverfahrens für Fahrzeuge durchgesetzt, sodass zum Beispiel Deutschland inzwischen mit fast allen Nachbarstaaten solche "Cross Acceptance"-Vereinbarungen abgeschlossen hat.